Werbung

Die SPD und das Unwort: «Bürgergeld» statt Hartz IV?

Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder mit Peter Hartz, dem Schöpfer der Hartz-IV-Reform. Foto: Wolfgang Kumm
Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder mit Peter Hartz, dem Schöpfer der Hartz-IV-Reform. Foto: Wolfgang Kumm

Aus der Mitte nach links? Während die Umfragekönige der Grünen das Zentrum erobern, hadert die SPD mit etwas, das viele als Wurzel allen Übels sehen: Hartz IV. Nun legt SPD-Chefin Nahles Ideen für etwas Neues vor, ein «Bürgergeld». So heißt aber auch das FDP-Konzept.

Berlin (dpa) - Wenn in dieser so unruhigen Zeit auf eines noch Verlass ist bei der SPD, dann auf das wiederkehrende Gespenst mit Namen Hartz IV.

Kurz nach dem Start der großen Koalition gab es im März eine hitzige Hartz-Debatte - und nun, die SPD ist auf 14 Prozent abgestürzt, ist das Thema wieder da. Und die Parteichefin Andrea Nahles stellt sich an die Spitze der «Hartz-IV-muss-weg»-Bewegung.

Bis heute leiden die Sozialdemokraten an der Reform, die die Kanzlerschaft von Gerhard Schröder prägte und zugleich die Konjunktur beflügelte, aber auch viel Vertrauen und Wähler kostete. Es dominiert die internen Debatten so, wie das Flüchtlingsthema heute Angela Merkels Kanzlerschaft prägt. Dieses droht zum «Hartz IV der CDU» zu werden.

Nahles hat angekündigt, Konflikte klären zu wollen. Denn Analysen ergeben, dass viele nicht mehr wissen, wofür die SPD heute steht. Die Spaltung bei der Haltung zu Hartz IV steht dafür symptomatisch. «Man muss auch mal den Mumm haben, ein paar heiße Eisen anzufassen», lautet ihre Devise.

Sie wirkt fast euphorisch nach dem jüngsten Debattencamp, das endlich etwas Aufbruch und bessere Laune bringen soll. «Wir werden Hartz IV hinter uns lassen», rief sie dort in den Saal. Ähnlich positiv war die Stimmung schon 2016 beim Zukunftskongress, 2015 gab es ein Kampagnencamp, 2014 Themenlabore.

Es gibt wohl kaum eine Partei, die so intensiv nach den Themen der Zukunft sucht. Und dabei oft in der Vergangenheit landet. In 8839 Zeichen hat Nahles nun am Wochenende in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» über «eine große Sozialstaatsreform - und was nach Hartz IV kommen muss» geschrieben. Doch was kommen muss, bleibt noch vage - aber dieses Mal soll die Debatte nicht ergebnislos verpuffen. Die wackelnde Vorsitzende muss liefern - und Streit kann belebend wirken.

«Wir müssen Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren», schreibt sie - und mit höheren Mindestlöhnen, Steuerrabatten und Zuschüssen zu den Sozialabgaben dafür sorgen, dass mehr netto bleibt, dass also viel weniger Bürger auf Grundsicherung angewiesen sind.

Gerade die zwei Millionen Kinder auf Hartz-IV-Niveau sind ihr ein ernstes Anliegen - sie sollen eine eigene Kindergrundsicherung bekommen. Und für den Rest - derzeit bekommen rund sechs Millionen Menschen Hartz-IV-Leistungen (Regelsatz: 416 Euro im Monat) - will sie eine «auskömmliche Leistung» mit weniger Sanktionsdrohungen.

«Es sind oft gar nicht die Leistungen, die für Verdruss sorgen, sondern die erfahrenen Demütigungen und Stigmatisierungen.» Nahles will auch weit mehr Wohngeld, um zu verhindern, «dass Menschen angesichts explodierender Mieten in die Grundsicherung getrieben werden».

Zudem deutet sie wie vor Hartz IV einen längeren Bezug von Arbeitslosengeld I an, damit langjährige Einzahler in das System nicht wie bisher nach ein paar Monaten auf Hartz-IV-Niveau fallen. Unterm Strich bedeutet ihr Vorschlag vor allem: viel mehr Geld. Man soll nicht unter das Existenzminimum fallen, Vermögensanrechnung und Zuverdienstgrenzen etwa bei Minijobs könnten großzügiger ausfallen.

Unbestritten ist, dass die von der rot-grünen Koalition vor 15 Jahren auf den Weg gebrachte Agenda 2010 mitverantwortlich ist für die heute weit bessere Arbeitsmarktlage. Die Vorschläge basierten auf den Ideen einer Kommission unter Leitung des früheren VW-Managers Peter Hartz. Es ging um mehr Flexibilität - aber auch um eine Ausweitung des Niedriglohnsektors und von Leiharbeit. Viele wurden zu Verlierern, fühlen ihre Arbeit nicht mehr wertgeschätzt. Und um Geld zu sparen, wurden Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammengelegt zu «Hartz IV».

Ist das Ganze heute mitverantwortlich dafür, dass viele Bürger sich immer stärker abgehängt fühlen und sich der AfD und anderen Alternativen zuwenden? Vizekanzler Olaf Scholz hatte Ende März bei der letzten Debatte klar gesagt: Am Hartz-IV-Prinzip des Forderns und Förderns werde nicht gerüttelt. Das wurde als «Denkverbot» intern scharf kritisiert. Auslöser der Debatte war damals Berlins Regierungschef Michael Müller, der als Hartz-Alternative ein «solidarisches Grundeinkommen» von 1200 Euro für alle will, die zu gemeinnütziger, sozialversicherungspflichtiger Arbeit bereit sind.

Nun will Nahles Hartz IV überwinden. Nicht wenige fordern, scharf nach links abzubiegen. Interessant ist, dass der Höhenflug der Grünen - 23 Prozent in einer ARD-Umfrage, nur noch knapp hinter CDU/CSU (26) - mit einem Mitte-Kurs geschieht. Schröders Mantra, das Scholz sofort unterschreiben würde, lautete: «Wahlen werden in der Mitte gewonnen.»

Während sich die CDU mit dem offenen Kandidatenrennen um die Nachfolge von Parteichefin Angela Merkel einen Frühling erhofft, wird bei der SPD über Nahles, die ihren Vorsitz einer Absprache im kleinen Kreis verdankt, und Scholz zunehmend kritisch gesprochen. Etwas böse Spitznamen lauten: «Pippi Langstrumpf und der Mann von der Hamburg-Mannheimer».

Selbst aus Schröders Umfeld heißt es zur Hartz-IV-Debatte: «Das ist nicht alles in Stein gemeißelt.» Aber Sorge bereitet vielen das zum Teil plan- und kopflose Agieren. Nahles schlägt als neuen Begriff «Bürgergeld» vor. Doch den Begriff «Bürgergeld» hat schon die FDP für ihr Konzept vor längerer Zeit gekapert. Und das Konzept zielt anders als bei Nahles auf deutlich weniger unterschiedliche Sozialleistungen ab. Dabei sollen alle steuerfinanzierten Sozialleistungen in einer Komplettleistung und an einer staatlichen Stelle gebündelt werden.

Bisher nutzt der SPD das Verteilen von immer mehr Milliarden, auch beim Thema Rente, in der Wählergunst wenig. Ex-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück meinte jüngst, die SPD werde nur noch als «Krankenwagen der Gesellschaft erlebt, der hier mal einen Rohrbruch abdichtet, mal eine Schraube anzieht und dafür sorgt, dass der Mindestlohn um einen Euro steigt». Der Sozialstaat ist wegen des demografischen Wandels aber längst an der Grenze. Und die Krisensignale verdichten sich.

Nahles' Ausführungen sind aber auch eine Antwort auf Grünen-Chef Robert Habeck - die SPD sieht mit Sorge, wie die Grünen versuchen, sich nun auch in der Sozialpolitik stärker zu profilieren. Aber Habecks zuvor vorgelegtes Konzept einer «Garantiesicherung» ohne Zwang, sich um neue Arbeit zu bemühen, dürfte noch teurer sein.

Das große Dilemma der SPD ist es, dass sie zwar debattieren, aber politisch sich vorerst nicht von ihrem Gespenst verabschieden kann. In der großen Koalition wird an dieser Stelle kaum etwas zu machen sein. Denn Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) sagt klipp und klar: «Wir dürfen und werden Hartz IV nicht abschaffen.»