Ein deutscher 100-m-Hammer, der alles infrage stellt
Als sich Simon Wulff an diesem schwülwarmen Augustabend in Dresden von der Leichtathletik verabschiedete, hatte er sich einen Plan zurechtgelegt.
In seiner Heimatstadt wollte sich der Sprinter anlässlich der Einweihung des zur Multifunktionsarena umgebauten Heinz-Steyer-Stadions noch einmal zeigen, auch wenn er keine besonderen Ambitionen mehr hatte.
„Wir sind nur deshalb in die Saison eingestiegen, weil wir in Dresden noch mal laufen wollten, um einen kleinen Abschied für mich zu schaffen“, sagt Wulff bei SPORT1.
Wulff war jahrelang ein Sprinter der zweiten deutschen Reihe, der es über 100 Meter selten unter 10,30 Sekunden schaffte. Sein Trainer Jannik Engel hielt ihn mehr oder weniger am Ende seiner Fahnenstange angekommen. „Ich habe ihn mit seiner Zeit von 10,23 Sekunden, die er aus seiner USA-Zeit stehen hatte, im Bereich seines Limits gehalten“, gibt Engels bei SPORT1 zu.
Es war eine kapitale Fehleinschätzung, wie sich nun zeigte - herausgekitzelt durch ein Training, das ursprünglich gar nicht darauf abzielte, Wulffs 100-Meter-Zeit zu drücken. Vielmehr war es auf das nächste Kapitel seiner Karriere ausgerichtet, einen Neustart in einer anderen Sportart.
Wulff legt acht Kilogramm an Muskelmasse zu
Schon früh im Jahr hatte ihn der deutsche Bob-Star Francesco Friedrich gefragt, ob er nicht Teil seines Teams werden wolle - mit 2,06 Meter und über 100 Kilo Gewicht ist Wulff prädestiniert für den Job des Anschiebers. Mit dem Anreiz, möglicherweise Olympiasieger 2026 zu werden und eine bessere Förderung zu bekommen, musste Wulff nicht lange überlegen und sagte zu.
Schon während seiner Reha nach einem Sehnenabriss im Beuger im Winter machte sich das Trainerteam um Engel daran, dem Leichtathleten Wulff das Rüstzeug mitzugeben, um aus einem guten Sprinter einen sehr guten Anschieber zu machen.
„Wir haben einen deutlichen Muskelaufbau forciert, weil das auch notwendig war“, erklärt Engel: „Das war die klare Ansage des Bob-Verbands, dass man sich darum kümmern muss.“ Im Frühjahr und Sommer schuftete Wulff also vornehmlich im Kraftraum und sorgte für einen beachtlichen Muskelzuwachs.
„Dadurch hat er einfach eine viel bessere Athletik und kann jetzt diese langen Hebel viel besser kontrollieren und einsetzen“, sagt Engel. „Das machte sich sofort richtig bemerkbar“ - auch auf der Tartanbahn.
Engel: „Das hat uns die Augen geöffnet“
Dass Wulff bei seiner Abschiedsvorstellung schneller als die angepeilten 10,50 Sekunden sein würde, konnte man schon eine Woche vorher erahnen, als er probeweise in Köln mit einer Bestleistung von 10,21 Sekunden unterwegs war.
Schon da war klar: Das spezifische Bobtraining hatte voll angeschlagen - aber, anders als gedacht, auch für den 100-Meter-Sprint.
In Dresden setzte der Modellathlet dann noch einen drauf und sprintete in fabelhaften 10,06 Sekunden ins Ziel, der viertschnellsten jemals gelaufenen Zeit eines Deutschen (hinter Owen Ansah/9,99 Sek., Lucas Ansah-Peprah/10,00 Sek., Julian Reus/10,01 Sek.). Dabei musste er sich nur Kanadas Staffel-Olympiasieger Jerome Blake (10,01 Sekunden) geschlagen geben.
„Der Start war überragend, das habe ich alles aus dem Training für den Bobsport“, sagt Wulff: „Das sind immer Beschleunigungen gegen Widerstände, einfach diese Power und Explosivität.“ Als keiner damit rechnete, drückte er damit seine Bestleistung in Bereiche, in die er ohne das Bob-spezifische Training ziemlich sicher nie gekommen wäre - und gegen die gängige Trainingslehre.
Für seinen Trainer war der Leistungssprung daher nicht zu erwarten. „Das hat auf jeden Fall die Augen geöffnet“, sagt Engel: „In der Leichtathletik hätte man nie im Leben darauf abgezielt, in so einer Zeit zum Beispiel acht Kilo Muskelaufbau zu erreichen.“
Wäre Wulff bei der Leichtathletik geblieben, wären die Trainer nach einer weniger brachialen Methode vorgegangen - nach dem Motto: „Wir müssen schon ein gewisses Maß an Kraft gewinnen, aber das darf nicht auf Kosten der Last geschehen, die der Körper mitbringt“, räumt Engel ein.
Wulff schon so schnell wie Hartmann
Bei seinem Schützling, der im vergangenen Jahr an einem US-College studierte, habe Engel „das Defizit der Athletik gesehen. Diese ganzen kleinen Muskelgruppen waren einfach viel zu schwach ausgeprägt. Darauf hätte man sich wahrscheinlich schon konzentriert, aber nicht auf die Hypertrophie oder den Muskelaufbau dieser großen Antriebsmuskulatur.“
In der letzten Woche vor dem Wettkampf habe man im Training bereits gemerkt, dass Wulff große Fortschritte macht - aber gleich 10,06 Sekunden? „Ich habe mit Joshua Hartmann einen anderen Athleten, der läuft auch 10,06, aber ich habe dafür ewig mit ihm daran gearbeitet. Das hat mich schon umgehauen“, sagt Engel.
Die Explosivität, die Simon Wulff nun aus dem Startblock katapultiert, zahlt sich auch über die 100 Meter aus. „Da muss man einfach sagen, dass der Bobsport uns ein bisschen den Horizont geöffnet und mich - und ich glaube auch einige andere Leichtathletiktrainer - zum Nachdenken gebracht hat“, räumt der Coach ein.
Profitieren von Wulffs gesteigerten Sprintqualitäten wird nun erst einmal Francesco Friedrich - doch es muss kein Abschied für immer von der Leichtathletik sein.
„Ich brauche diesen Winter, um den Bobsport kennenzulernen, meine Fehler zu machen, und einfach als Vorbereitung, um die Möglichkeit zu haben, an Olympia teilzunehmen“, sagt er. „Deshalb kann ich nächstes Jahr eigentlich eine Rückkehr ausschließen, „Aber Fakt ist, dass ich die Leichtathletik sehr liebe und sie mein ganzes Leben gemacht habe.“
Dass es nach dem Sensationslauf einen kurzen Moment gab, in dem er grübelte, ob er nicht doch bei der Leichtathletik bleiben sollte, will Wulff gar nicht verhehlen.
Rückkehr nach 2026 zur Leichtathletik?
„Der Gedanke kam auch bei mir selbst auf, denn wenn man sich innerhalb von einer Woche von 10,2 auf 10,06 verbessert, dann ist auch der Sprung zur 9,9 zwar noch weit, aber durchaus realistisch“, sagt er.
Dass er dennoch nicht von seiner Entscheidung abrückte, lag auch daran, dass Wulff ohne das Bob-spezifische Training gar nicht erst in diese Bereiche gekommen wäre. „Wenn ich den Weg nicht gegangen wäre, wäre ich aktuell auf gar keinen Fall da, wo ich jetzt bin. Auch die Aussicht auf eine olympische Medaille kann mir die Leichtathletik einfach nicht geben. Selbst mit einer 9,95 werde ich da nichts holen.“
Auch sein Trainer wollte ihn nicht dazu überreden, seine Entscheidung zu überdenken: „Auf keinen Fall, weil es auch ganz klar ist, dass der Weg, den er eingeschlagen hat, Sinn ergibt. Die Vorstellung, dass er 2026 als Olympiasieger im Bob von Francesco Friedrich sitzen kann, kann ich ihm in der Leichtathletik nicht bieten. Ich kann das selbst in der Staffel in Deutschland nicht anbieten. Das ist unmöglich.“
Allerdings: „Was nach 2026 passiert, da würde ich natürlich versuchen, ihm eine Perspektive aufzuzeigen“ sagt Engel. Dass der Weg zurück möglich ist, zeigt etwa Alexandra Burghardt, die 2022 bei Olympia in Peking Silber im Zweierbob holte und danach an der Seite von Gina Lückenkemper Staffel-Medaillen bei der EM in München, der WM in Eugene und zuletzt bei Olympia in Paris.
Möglicherweise kehrt der 23 Jahre alte Wulff als Olympiasieger in knapp zwei Jahren auf die Tartanbahn zurück - und es hört sich fast schon an wie eine Drohung an die Konkurrenz: „Vielleicht kommen mir die paar Kilo, die ich jetzt mehr habe, zugute. Der deutsche Rekord ist in mittelnaher Zukunft sicherlich möglich.“