Der folgenschwere Eklat um eine russische Olympia-Legende
Als Nina Ponomarjowa heute vor acht Jahren starb, nahmen hierzulande nur noch wenige davon Notiz - trotz ihrer bewegten Geschichte.
Die Diskuswerferin sorgte 1952 für einen historischen Moment des Weltsports, als sie in Helsinki zur ersten Olympiasiegerin der Sowjetunion wurde. Vier Jahre später war sie Hauptfigur einer skurrilen Episode des Kalten Krieges, der schwere diplomatische Verwerfungen zwischen der UdSSR und England auslöste - und das Zeitungspublikum in beiden Ländern über Wochen in Atem hielt.
Auslöser der Affäre: fünf Hüte des Konfektionswarenhändlers C&A im inflationsbereinigten Wert von knapp über 50 Euro.
Was war geschehen?
Ein C&A-Besuch mit Folgenn
Es war das Jahr 1956: Elvis Presley hatte mit „Heartbreak Hotel“ seinen ersten Charterfolg, die Hochzeit von Hollywood-Ikone Grace Kelly mit Fürst Rainier von Monaco bewegte die Klatschpresse, der UdSSR niedergeschlagene Volksaufstand in Ungarn und der kriegerisch eskalierte Konflikt um die Kontrolle des Suezkanals die politische Welt.
Die aufgeregten Zeiten wurden noch ein Stück aufgeregter, als die damals 27 Jahre alte Ponomarjowa im Sommer für ein sowjetisch-britisches Sportfest nach London reiste. Was drei Jahre nach dem Tod Josef Stalins und der Machtübernahme Nikita Chruschtschows eigentlich für interkulturelle Entspannung sorgen sollte, bewirkte das Gegenteil, als eine Shoppingtour Ponomarjowa in der Oxford Street chaotische Folgen hatte.
Ladendetektive der Kette C&A sahen Ponomarjowa mit einer Wollmütze und vier Federhüten (weiß, schwarz, gelb und mauve, wie die Reporter selten zu erwähnen vergaßen). Sie vermuteten einen Diebstahl und alarmierten die Polizei - Ponomarjowa beteuerte, die Warte bezahlt zu haben, konnte aber keine Quittung als Beleg dafür vorweisen.
Aller Wahrscheinlichkeit nach handelte es sich bei dem Vorfall schlicht um ein Missverständnis, wie es jedem Auslandsreisenden passieren kann: In Ponomorjowas Heimat war es zu dieser Zeit nicht üblich, dass Kundinnen beim Einkauf eine Quittung bekommen. Gegenseitiges Misstrauen auf beiden Seiten machten aus dem kleinen Eklat jedoch eine veritable Staatsaffäre.
„Für viele Frauen sind diese Hüte nun mal verführerisch“
Ponomorjowa erschien nicht zu dem Gerichtstermin, zu dem sie vorgeladen wurde - und der sowjetische Delegationsleiter des Freundschaftswettkampfs zog seine Athleten ab, sprach von „einer dreckigen Provokation“ und einem „Versuch, eine unserer bekanntesten und bemerkenswertesten Sportpersönlichkeiten zu erpressen“.
In Moskau wurde der britische Botschafter einbestellt und auch das berühmte russische Bolschoi-Ballett drohte mit einer Absage einer geplanten Reise, aus „Angst vor politischer Verfolgung“, wie Ponomarjowa sie ereilt hätte.
Letztlich stellte sich heraus, dass Ponomorjowa 44 Tage in der UdSSR-Botschaft in London ausharrte. Die diplomatische Affäre wurde gelöst, indem sie doch noch vor Gericht erschien und eine Geldstrafe von rund 115 Euro ohne weitere Konsequenzen akzeptierte.
Der zuständige Richter ließ sich dabei nicht die gönnerhafte Fünfziger-Jahre-Männerbemerkung nehmen, dass „diese C&A-Hüte nun mal für viele Frauen sehr verführerisch sind“.
Nina Ponomorjowa wurde unfreiwillig zum Synonym für Diebesgier
Wie sehr der Fall ganz England bewegte, zeigte sich auch durch einen Wortbeitrag des linken Labour-Politikers Tony Benn, als er im Mai das Verhalten der konservativen Tory-Regierung in der Suezkrise als „Banditentum“ kritisierte und anmerkte: „Sie denken einfach, dass der Kanal uns gehört und wir ihn uns nehmen können. Das ist die Moral von Nina Ponomorjowa.“
Ponomorjowa reiste in einem Dampfschiff zurück nach Leningrad, dass sie bei Olympia in Melbourne im November desselben Jahres nur Dritte wurde, führten viele auf die Verirrungen um die fünf Hüte zurück.
Vier Jahre später in Rom gewann Ponomorjowa wieder Gold, 1966 beendete sie ihre aktive Karriere in der Leichtathletik und wurde Trainerin. In Russland war sie wegen ihres sportlichen Ruhm bis zuletzt eine Vorzeigefigur. Sie starb am 19. August 2016 im Alter von 87 Jahren.