„Jeder Fußballer träumt schon als Kind davon“
Seit Rocco Reitz denken kann, kreist sein Leben um Borussia Mönchengladbach. Bei seiner Geburt wurde er im Verein angemeldet, als Siebenjähriger ging es mit dem Fußballspielen los. Inzwischen hat sich der Mittelfeldmann bei den Profis etabliert und in der Bundesliga seinen Durchbruch geschafft. Dank eines individuell herausragenden Jahres kam er sogar bis ins deutsche Nationalteam.
Bundestrainer Julian Nagelsmann holte vor der Heim-EM neben Brajan Gruda auch Reitz als Trainingsgast aus der U21 in die A-Mannschaft. Beide hinterließen dort einen sehr starken Eindruck und konnten für künftige Debüts werben. Im exklusiven SPORT1-Interview schildert der 22-Jährige, wie er von den gestandenen Stars aufgenommen wurde und verrät, welche ehrgeizigen Ziele er sich für die kommende Saison gesetzt hat.
SPORT1: Herr Reitz, Sie sind im letzten Jahr nach einer Leihe zu St. Truiden zurück nach Mönchengladbach gekommen, Stammspieler und dann auch Publikumsliebling geworden. Später folgte die Berufung für die U21 und sogar die A-Nationalmannschaft. Haben Sie all das während der Sommerpause verarbeiten können?
Rocco Reitz: Dass es jetzt schon so gut für mich läuft, egal ob im Verein oder beim DFB, lag letztes Jahr noch außerhalb meiner Vorstellungskraft. Im Urlaub habe ich versucht, das alles sacken zu lassen und zu realisieren. Viel Zeit blieb da aber nicht. Und ich weiß auch gar nicht, wann das richtig im Bewusstsein ankommt. Für mich steht nur fest: Ich bin sehr glücklich über die vergangene Saison und will daran unbedingt anknüpfen.
SPORT1: Wie groß ist die Gefahr, nach so einem Jahr abzuheben?
Reitz: Die Gefahr besteht theoretisch schon. Es kommt natürlich darauf an, wie man damit umgeht. Ich habe mich gut im Griff, weil ich genau weiß, wo ich herkomme. In den letzten Jahren musste ich mir vieles hart erarbeiten, das war kein Zuckerschlecken. Sollte ich aber doch mal mit einer etwas zu hohen Nase nach Hause kommen, wäre meine Freundin die Erste, die interveniert. (lacht)
Als Nagelsmanns Anruf kam, packte Reitz gerade Koffer
SPORT1: Das jüngste Highlight war die Teilnahme an der EM-Vorbereitung der deutschen Nationalmannschaft.
Reitz: Der Moment des Anrufs und die Mitteilung zu bekommen, dorthin zu dürfen, war unglaublich. Jeder Fußballer träumt schon als Kind davon, mal für das Nationalteam zu spielen. Ich hatte eigentlich gerade den Koffer gepackt und wollte nach Mallorca zur Hochzeit meines Vaters reisen. Da bin ich auch noch für anderthalb Tage hin, danach ging es sofort ab ins Camp.
SPORT1: Wie sind die ersten Tage im Kreis der „Großen“ verlaufen?
Reitz: Ich hatte großen Respekt und mir vorgenommen, einfach so wenig Nervosität wie möglich zu zeigen. Anfangs fiel mir das gar nicht leicht, weil da Leute um einen herum sind, die man seit Kindheitstagen bewundert. Aber mir wurde schnell klar: Hier gibt es keinen, der nur sein eigenes Ding macht. Ich wurde super aufgenommen, alle waren sehr nett und hilfsbereit. Thomas Müller war zum Beispiel einer derjenigen, die mir sofort alles gezeigt haben, auch der Rest des Teams ist unheimlich offen gewesen. Man konnte mit jedem völlig normal reden, sich mit jedem an einen Tisch setzen - diese Mentalität hat mich schwer beeindruckt. Als junger Spieler war es überhaupt nicht schwer, Anschluss zu finden und sich wohlzufühlen.
Kimmich „nicht nur ein Wahnsinnsspieler auf dem Platz“
SPORT1: Sie nennen Joshua Kimmich als Ihr Vorbild. Haben Sie mit ihm mal darüber gesprochen?
Reitz: Explizit darüber nicht. Aber natürlich habe ich mittlerweile das eine oder andere Gespräch mit Joshua geführt und da bestätigte sich immer das, was ich vorher von außen wahrgenommen hatte. Er ist nicht nur ein Wahnsinnsspieler, der über diesen besonderen Biss verfügt, jedes einzelne Spiel gewinnen zu wollen, sondern zeichnet sich daneben auch durch einen Top-Charakter aus.
SPORT1: Aleksandar Pavlovic, mit dem Sie sich eine Position teilen, fiel kurz vor der EM aus. Bundestrainer Julian Nagelsmann sagte danach, Sie hätten „herausragend gut trainiert“, wählte aber letztlich Emre Can als Ersatzmann. Hofften Sie kurz auf eine andere Entscheidung?
Reitz: Die Nachricht hatte ich erst sehr spät gelesen. Ich bin an diesem Tag in den Urlaub geflogen und saß acht oder neun Stunden im Flugzeug. Erstmal tat es mir für ihn unfassbar leid. Aleksandar ist ein toller Typ und ein klasse Fußballer, ich verstand mich sofort gut mit ihm. Die Hoffnung, dass mein Telefon dadurch nochmal klingelt, war ehrlich gesagt gar nicht so groß - und die Enttäuschung dementsprechend auch nicht. Emre (Can; Anm. d. Red.) hat sich seine Nachberufung maximal verdient, weil er den BVB vorher als Kapitän ins Champions-League-Finale geführt hat. Klar hätte ich mich total gefreut und es super gerne mitgenommen, aber mein Urlaub war immerhin auch schön. (lacht)
England Europameister? „Das hätte mich geärgert“
SPORT1: Man kann sich vorstellen, dass es trotzdem hin und wieder schwer ist, die Jungs, mit denen Sie gerade noch trainiert haben, bei der EM nur im TV verfolgen zu können.
Reitz: Nein, wirklich nicht - und das meine ich genau so. Ich bin der größte Deutschland-Fan gewesen und habe mich über jede gelungene Aktion der Jungs gefreut.
SPORT1: Ist Spanien ein würdiger Europameister?
Reitz: Neben Deutschland waren sie auf jeden Fall die beste Mannschaft. Und ganz ehrlich: Mich hätte es auch etwas geärgert, wenn die Engländer gewonnen hätten. Da standen elf Spieler, die so ein gewaltiges Potenzial besitzen, auf dem Platz und am Ende war die Spielweise trotzdem nicht besonders attraktiv. Das fand ich schade. Was Spanien gespielt hat, war dagegen brutal gut. Sie haben es sich verdient. Obwohl ich uns lieber im Finale und später als Europameister gesehen hätte.
„Es fallen weniger freche Sprüche im Training“
SPORT1: Jetzt liegt Ihr Fokus wieder auf Gladbach, Sie sind seit knapp zwei Wochen wieder im Training. Wie ist der aktuelle Eindruck vom Team - und vor allem: wie fühlt sich eine Borussia-Kabine ohne Tony Jantschke und Patrick Herrmann an?
Reitz: Die Hierarchie verschiebt sich ein Stück weit. Das passiert automatisch, wenn gleich zwei solcher Legenden abtreten. Was uns aber allen ganz klar auffällt: Es fallen weniger freche Sprüche im Training oder der Kabine - da waren die beiden immer ganz vorne dabei. Ansonsten habe ich bisher einen sehr guten Eindruck von der Mannschaft. Die neuen Spieler sind schon eingegliedert, bis jetzt läuft alles nach Plan. Alle haben richtig Bock, die Stimmung ist gut. Es macht viel Freude, weil man spürt, dass die Jungs alles aufnehmen, jeder bisher mitzieht und äußerst engagiert ist.
SPORT1: Die vergangene Saison verlief enttäuschend, Gladbach konnte sich mit nur einem Punkt Vorsprung auf den Relegationsplatz gerade noch in der Liga halten. Hat man dem Team mit der Ansage, man befinde sich im Umbruch, ein Alibi gegeben?
Reitz: Wir wollten von Anfang an den maximalen Erfolg, deswegen ist das bei uns überhaupt kein Thema gewesen. Man darf nicht vergessen: Im vergangenen Sommer sind viele Spieler gegangen, die das ganze Team die Jahre zuvor getragen hatten, die mit ihrer individuellen Qualität schlicht und einfach nicht eins zu eins zu ersetzen waren - Lars Stindl, Jonas Hofmann, Marcus Thuram und Ramy Bensebaini. Kurz zuvor auch schon Yann Sommer. Viele Jungs, wie auch ich selbst, kamen dann neu rein, da fehlte uns teilweise die Erfahrung. Dass es am Ende so eng und schwierig wird, hätte ich nicht gedacht. Zum Glück haben wir es noch hingebogen.
SPORT1: Oft wurden Gladbach fehlende Führungsspieler nachgesagt. Sie sind so stark mit dem Verein verbunden wie keiner Ihrer Teamkollegen und wurden schon nach der Geburt von Ihrem Patenonkel bei Borussia als Mitglied angemeldet. Das wäre doch eine perfekte Rolle für Sie.
Reitz: Von meiner Seite aus gerne - das ist auf jeden Fall ein Ziel von mir, eines Tages in eine solche Rolle zu schlüpfen. Ich fühle mich jedenfalls dazu bereit, in den nächsten Jahren diesen Schritt zu gehen. Dass ich dafür erst einmal meine Leistungen bestätigen, konstanter werden und natürlich verletzungsfrei bleiben muss, weiß ich. Aber ich bin nicht der Einzige, der bei uns Verantwortung übernehmen kann. Jungs wie Julian (Weigl; Anm. d. Red.) und Jonas (Omlin; Anm. d. Red.) füllen diese Führungsrolle bereits aus.
Reitz-Lob für René Maric
SPORT1: Sie haben fast jedes Jahr einen anderen Trainer gehabt. Wer hat Sie besonders geprägt?
Reitz: Man nimmt von jedem Trainer etwas mit. Aber essentiell ist jetzt definitiv Gerardo Seoane, weil er mir die Tür zur Bundesliga geöffnet hat. Ich musste mir das zwar selbst verdienen, ohne einen Coach, der einem das Vertrauen schenkt, geht es allerdings nicht. Er muss dich an die Hand nehmen und sagen: ‚Junge, ich mag, was du machst. Du spielst bei mir und kannst dir auch Fehler erlauben, wenn du dich richtig reinhaust.‘ Gerardo ist immer ehrlich und hat mit Abstand am meisten dazu beigetragen, wie ich mich als Typ auf und neben dem Platz entwickelt habe. Auch unser ehemaliger Co-Trainer René Maric (inzwischen beim FC Bayern, Anm. d. Red.) ist nicht zu vergessen, der mir taktisch etliche Details beigebracht hat. Gleiches gilt für Bernd Hollerbach in Belgien, er ist eher über die ‚alte Schiene‘ gegangen, und hat mir die nötige Körperlichkeit mit auf den Weg gegeben.
SPORT1: Welche Ziele haben Sie für die kommende Saison?
Reitz: Jeden Tag mit dem Team besser zu werden und stets das Maximale herauszuholen. Wenn ich sonst über meine individuellen Ziele nachdenke: Ich möchte so viele Spiele wie möglich absolvieren, verletzungsfrei bleiben und mindestens zehn Scorerpunkte anpeilen. Letzte Saison hatte ich neun. Ich will mich jedes Jahr verbessern und überall eine Schippe drauflegen. Da geht es um Kleinigkeiten. Wenn das klappt, kommt vieles von alleine.
SPORT1: Und das erste Länderspiel wäre doch sicherlich etwas Schönes.
Reitz: Ich weiß nicht, ob man das als realistisches Ziel ausgeben kann. Möchte ich auch gar nicht. Es ist ein Lebenstraum, einmal mit dem Adler auf der Brust aufzulaufen. Dafür will ich weiter Vollgas geben. Wie schnell es manchmal gehen kann, wenn die Leistungen über einen langen Zeitraum stimmen, habe ich ja jetzt gesehen.