Der kaum beachtete Tod eines revolutionären Athleten
Als Yemisi Ogunleye am 9. August in ihrem letzten Versuch im Olympiafinale von Paris die Kugel auf die Siegesweite von genau 20 Meter stieß, konnte sie es selbst kaum fassen.
Ungläubig hielt die deutsche Athletin ihre Hände vors Gesicht und als die Weite schließlich angezeigt wurde, sank sie auf den Boden und hielt einen Augenblick inne.
Die Goldmedaille, die sie an diesem Abend dank ihrer ausgereiften Drehstoßtechnik holte, gebührt - zumindest für einen kleinen Teil - auch einem, der diese erst salonfähig gemacht hatte: Alexander Baryschnikow, der am vergangenen Sonntag von der Weltöffentlichkeit größtenteils unbemerkt verstorben ist.
Baryschnikow revolutionierte das Kugelstoßen
Auf SPORT1-Nachfrage bekannte Ogunleye, bislang noch nichts von Baryschnikows Namen gehört zu haben, gleichwohl sei sie froh, dass der damalige Sowjet-Athlet als Pionier des Drehstoßes ihr quasi den Boden für den Olympiatriumph bereitet hatte.
Baryschnikow perfektionierte zu aktiven Zeiten die Technik, bei sich der Athlet im Ring eineinhalb Mal dreht, bevor die Kugel seine Hand verlässt. Sie ist mittlerweile Standard im Hochleistungssport, auch wenn einige Kugelstoßer nach wie vor die klassische Angleittechnik anwenden.
Schon bevor Baryschnikow der neuen Technik zum Durchbruch verhalf, hatten andere Kugelstoßer aus der damaligen Tschechoslowakei und den USA mit ihr experimentiert. Die Ernte konnte aber erst Baryschnikow einfahren, als er am 10. Juli 1976 die Kugel auf exakt 22 Meter setzte und damit den Weltrekord verbesserte.
Der Olympiasieg war dem Russen zwar nicht vergönnt, doch bei den Spielen 1976 in Montreal (Bronze) und Moskau 1980 (Silber) war er zumindest nah dran.
Viele deutsche Athleten machten nicht mit
Das Drehen im Stoßring, das als „Baryschnikow-Technik“ in die Historie einging, konnte sich über die Jahrzehnte nur sukzessive durchsetzen. Beim DLV galt sie noch vor zehn Jahren als zweite Wahl, so dass kaum ein deutscher Kugelstoßer sie anwandte. Dies lag auch an den großen Erfolgen von David Storl, der ohne Drehung 2011 und 2013 zwei Weltmeistertitel holte und sich Anfang 2024 - längst abgehängt - vom Leistungssport zurückzog.
Spätestens mit der Dominanz der US-Amerikaner um Ryan Crouser, der den Weltrekord im Mai 2023 auf 23,56 Meter schraubte, hat sich die Szene mehrheitlich für die Drehstoßtechnik entschieden, die sich, ähnlich wie beim Diskuswerfen, die Rotationsenergie zunutze macht.
Einer der schon frühzeitig auf den Zug aufsprang, war der DDR-Kugelstoßer Rolf Oesterreich, dessen Karriere tragischerweise nur als Fußnote in der deutschen Sportgeschichte abgebildet ist, obwohl sie deutlich mehr verdient hätte.
Der 2022 verstorbene Oesterreich war in den frühen 1970er Jahren mit der herkömmlichen Angleittechnik noch ein unbeschriebenes Blatt und seine Bestleistung von 16,24 Meter nicht der Rede wert. Dies änderte sich schlagartig, als er sich in Eigenregie die Drehstoßtechnik aneignete und im Training auf Weiten über 19 Meter steigerte.
Der tragische Fall des Rolf Oesterreich
Im Arbeiter- und Bauernstaat war die Drehstoßtechnik jedoch verpönt, zudem war Oesterreich den DDR-Funktionären suspekt, da er als nicht linientreu galt und keinem Verein angehörte. Der Autodidakt verbesserte sich bis zum Mai 1976 auf 21,45 Meter, was Jahresbestleistung in der DDR bedeutete - dennoch wurde er nicht für die Olympischen Spiele in Montreal nominiert.
Ausgerechnet dem verfemten Oesterreich gelang es dann wenige Wochen nach den Spielen, den Weltrekord von Baryschnikow zu verbessern. Bei den Bezirksmeisterschaften in Zschopau steigerte er die Marke auf sensationelle 22,11 Meter - doch seine neue Bestmarke wurde von Leichtathletik-Verband der DDR (DVfL) nie eingereicht.
Der Name Rolf Oesterreich wurde faktisch von der DDR totgeschwiegen - und er taucht auch heutzutage, 34 Jahre nach der Wende, nur als Randnotiz in den Statistiken des DLV auf.
In der Liste der zehn besten Athleten im Kugelstoßen werden Oesterreichs 22,11 Meter mit folgender Anmerkung geführt: „Leistung wurde vom damaligen DVfL der DDR aus heute nicht mehr nachvollziehbaren Gründen nicht anerkannt.“
Alexander Baryschnikow, dem Oesterreich nacheiferte und der gewissermaßen auch dem Olympiasieg von Ogunleye den Weg ebnete, starb zwei Jahre nach Oesterreich im Alter von 75 Jahren. Eine Todesursache wurde in den russischen Medien nicht genannt.