Der "Penner", der zur deutschen Sportikone wurde
Willi Wülbeck stand an jenem 29. August 1978 unter der Tribüne des Prager Nationalstadions und konnte es nicht fassen. Soeben hatte er den Startschuss für seinen eigenen 800-Meter-Vorlauf gehört, deren Teilnehmer sich gerade anschickten, die EM-Finalisten zu ermitteln - ohne ihn.
„Unter der Tribüne war ein Sammelraum, wo etwa 60 bis 70 Läufer aus allen Vorläufen warteten, bis sie aufgerufen werden“, erinnert sich Wülbeck im Gespräch mit SPORT1. „Ich musste dann aber auf Toilette, weil ich das Gefühl hatte, dass es ein bisschen drückt. Als ich zurückkam, wurde mein Name offenbar schon aufgerufen, jedenfalls waren meine Konkurrenten weg.“
Es sei ein Trauma gewesen, das ihn noch länger verfolgt habe, sagt Wülbeck heute. Der Mann mit dem Kämpferherz war damals 23 Jahre alt und hatte 1976 in Montreal als Olympia-Vierter für positive Schlagzeilen gesorgt. Entsprechend war er in Prag als deutsche Medaillenhoffnung angereist, nur um später kübelweise Spott für sein Missgeschick zu bekommen - vor allem vom gefürchteten Boulevard, der zu dieser Zeit noch weniger zimperlich war als heute.
„Da wachte der Penner von Prag auf“
„Die Bildzeitung hat später getitelt: ‚Da wachte der Penner von Prag auf‘, als ich ein Rennen später in Frankfurt an den Start ging und das Publikum mal wieder meinen Namen rief.“ Seine Fans hatten ihm den Fauxpas schon da verziehen und seinen Vornamen skandiert, immer dann, wenn er an ihnen vorbeilief.
Das langgezogene ‚Williiiii‘ aus tausenden Kehlen geschrien, war zu dem Zeitpunkt schon sein Markenzeichen. „Ich war der Volks-Willi, diesen Nimbus hatte ich im Laufe der Jahre. Das lag einerseits an meinem Namen, den man gut rufen kann, andererseits auch daran, dass ich auf das Publikum reagiert habe“, erzählt Wülbeck.
Erst seien die Willi-Rufe in kleinen Gruppen entstanden, „das hat sich dann so verselbstständigt, dass am Ende das ganze Stadion „Williiiiiiii“ rief. Ich war immer der Kämpfertyp, diese Eigenschaft haben die Leute gemocht“, sagt Wülbeck. „Dazu kam, dass ich zehnmal in Folge Deutscher Meister wurde und auch einige internationale Erfolge feiern durfte.“
Das fraglose Highlight folgte im 800-Meter-Finale 1983 in Helsinki, bei der der ersten Austragung der Leichtathletik-WM – und es war gleichsam das glamouröse Ende seiner Karriere. In einem aberwitzigen Abnutzungskampf zwischen den Favoriten Joaquin Cruz aus Brasilien und dem Engländer Peter Elliot, die sich permanent an der Spitze bekämpften, hielt sich Wülbeck immer einige Schritte dahinter auf und lauerte auf seine Chance.
Wülbecks Rekorde sind immer noch unangetastet
Zu Beginn der Zielgeraden fasste er sich ein Herz, spurtete an den beiden Favoriten vorbei ins Glück und machte sich damit zum ersten 800-Meter-Weltmeister der Geschichte - eine Art deutscher Pionier also.
Doch nicht nur der Titel ist erwähnenswert, sondern vor allem auch die Zeit. An seinen 1:43,65 Minuten bissen sich Wülbecks Nachfolger in Deutschland bis zum heutigen Tag die Zähne aus – trotz der Vorteile, die beispielsweise die immer ausgefeiltere Technologie der Laufschuhe bietet.
Bereits mit Zeiten unter 1:46 Minuten tun sich hierzulande die Mittelstrecken-Spezialisten schwer, einzig Robert Farken gelang dies in der abgelaufenen Saison. Die Flaute zieht sich dabei schon über zwei Jahrzehnte. Nach Nils Schumann, der 2000 überraschend Olympiasieger in Sidney wurde, gab es keinen einzigen deutschen Läufer mehr von internationaler Klasse. Bei den Spielen in Paris zuletzt hatte sich kein DLV-Athlet über die 800 Meter qualifiziert.
„Ich kann mit gutem Gewissen sagen...“
Dabei hatte Wülbeck, der auch noch den Deutschen Rekord über 1000 Meter (2:14,53 Minuten) hält, offenbar noch ein paar Reserven. „Ich bin überzeugt, dass ich bei meinem WM-Sieg sogar noch ein bisschen schneller hätte laufen können, weil ich mich vor der Zielgeraden noch bewusst zurückgehalten habe.“ So seien seine beiden Rekorde „Referenzen, die mich bis heute stolz machen“.
Dabei wird Wülbeck nicht müde zu betonen, dass er nicht – wie nachweislich viele seiner Konkurrenten in den 70er- und 80er Jahren – mit unerlaubten Mitteln nachgeholfen habe.
„Ich kann mit gutem Gewissen sagen, dass ich nie in meinem Leben gedopt habe. Das könnte ich auch beeiden, auch wenn mir niemand mehr das Gegenteil beweisen kann. Ich wusste, dass es auch so reicht und hätte nicht mit dem Gewissen leben können, irgendwelche Betrügereien zu veranstalten. Ich war, so sage ich das immer gerne, ein Naturprodukt“, schmunzelt er.
Warum seine Erben ihm über 40 Jahre nicht das Wasser reichen können, könnte eine Frage der vielbeschworenen Mentalität sein, glaubt Wülbeck.
Heutzutage gibt Wülbeck Walking-Kurse
„Solch eine Leistung kann man nicht nebenbei aufstellen, dazu muss man einiges aufbringen an systematischem und kontinuierlichem Training. Und man muss erst einmal bereit dazu sein. Mir scheint es so, dass die heutige Generation das möglicherweise nicht mehr auf sich nehmen will.“
Somit kann er sich auch 41 Jahre nach seinem Coup an seinem Fabellauf samt Deutschem Rekord erfreuen. „Mein WM-Sieg ist bis zum heutigen Tag Gesprächsthema, wenn ich mich mit Leuten unterhalte. Das war mein Lebensereignis, was den Sport angeht. Das trägt mich bis heute.“
Neben seinem Job als Fitnesstrainer – Wülbeck leitet von ihm kreierte Walking-Kurse (“Walking plus“) mit integrierter Gymnastik – ist der 69-Jährige immer noch der Leichtathletik verbunden. „Bei TV-Übertragungen sitze ich immer gespannt vor dem Fernseher. Dass das Olympiastadion in Paris schon am Vormittag voll war, zeigt mir, dass die Leichtathletik noch immer die Leute erreicht.“
Einen Kämpfer wie er, der die Massen begeisterte, sah Willi Wülbeck im DLV-Trikot allerdings nicht. Dabei wäre für die deutsche Leichtathletik ein ähnlicher Typ wie der „Volks-Willi“ ein echter Segen – und ein Missgeschick wie an jenem Spätsommertag 1978 in Prag schnell vergessen.