Als Sammer unter der Dusche bittere Tränen weinte
Matthias Sammer saß im Duschraum und heulte, nach eigenen Worten, „wie ein Kind, dem sie den Teddybären weggenommen haben“. Elf Minuten vor Schluss des dramatischsten Meisterschaftsfinales der Bundesliga wurde der Antreiber des VfB Stuttgart in Leverkusen vom Platz gestellt. Auf der VfB-Bank sank Manager Dieter Hoeneß zusammen: „Das war tödlich“, unkte er. Musste es doch seinem Team den Titel kosten, denn es stand 1:1 und nur ein Sieg konnte helfen.
Sammer konnte dazu nichts mehr beitragen und ihm schien auch keiner mehr helfen zu können. Sicher war er auf ewig dankbar, dass in diesem Moment keine Kamera zugegen war. Für die Bilder, die sie aufgezeichnet hätte, wurde der Begriff vom „Häufchen Elend“ erfunden. Der so ehrgeizige Mann, schon mit 24 ein Leader-Typ, der nie aufgab und Mitspieler teils brachial aufrüttelte, war der Verzweiflung nahe.
„In zwei Minuten sind wir Meister!“
Plötzlich kam VfB-Arzt Thomas Fröhlich in die Kabine gerannt und rief: „Komm raus, in zwei Minuten sind wir Meister!“ Er fühlte sich veräppelt, doch ein kleines Wunder war geschehen. Weltmeister Guido Buchwald hatte trotz Unterzahl das 2:1 geköpft und das sollte reichen. Nach dem verfrühten Abpfiff strömten die kaum noch zu haltenden Gästefans den Rasen, es kam zu ekstatischen Jubelszenen.
Wenn der VfB Stuttgart heute nach Leverkusen reist, werden sich die Älteren wieder an dieses Spiel erinnern, auch wenn das Stadion heute ganz anders aussieht und wenn der Meister heute auf der anderen Seite steht. Damals war Bayer 04 noch nicht mal „Vizekusen“, mit dem Titelkampf hatte der Werksklub seit dem Aufstieg 1979 für gewöhnlich nichts zu tun und auch der VfB nur selten – immerhin 1984 hatte er die Schale in der Bundesliga mal geholt. Und wie war die Lage im Endspurt der längsten Saison (38 Spieltage) aller Zeiten?
Ein einmaliges Titelrennen - „Krieg in Leverkusen“
Einmalig! Dass drei Titelaspiranten punktgleich ins letzte Spiel gehen und jeder von ihnen während der aufregenden 90 Minuten einmal die Hand an der Schale hatte, das hat die Bundesliga ansonsten nie mehr geliefert. Alle Kandidaten mussten auswärts ran: Eintracht Frankfurt bei Hansa Rostock, Borussia Dortmund in Duisburg – beide Gegner kämpften noch gegen den Abstieg – und der VfB Stuttgart bei UEFA-Cup-Aspirant Bayer Leverkusen, wo in der Gästekabine ein Plakat hing mit der Aufschrift: „15.30 Uhr – Krieg in Leverkusen.“
Verfasser: Motivationskünstler Christoph Daum, der schon am Vortag einen Spion zum Eintracht-Training geschickt hatte, der erkannt und verjagt wurde. Aber das Ziel war erreicht: Verunsicherung. VfB-Manager Dieter Hoeneß kitzelte zudem die Spieler mit 10.000 DM Siegprämie pro Kopf, ob man Meister werde oder nicht.
Die Chronik des Nachmittags: Ab 15.39 Uhr führte Dortmund in Duisburg, um 15.50 Uhr lag der VfB in Leverkusen zurück, zwei Minuten vor der Pause glich Fritz Walter per Elfmeter aus und in Rostock stand es zur Halbzeit 0:0. Borussia Dortmund stand 45 Minuten vor der Meisterschaft, der VfB war weiterhin Dritter. Tabellenführer Eintracht verlor dann die Nerven, geriet nach 63 Minuten in Rückstand, glich drei Minuten später aus und lief Amok, als Schiedsrichter Alfons Berg ihr einen berechtigten Elfmeter versagte.
Vom „Titelversauer“ zum Meister
Es war ein Drama auf drei Bühnen, auf den Ersatzbänken liefen die Transistorradios heiß. Elf Minuten vor Schluss flog dann VfB-Lenker Matthias Sammer wegen höhnischen Applauses für eine Gelbe Karte vom Platz, Schiedsrichter Hans-Peter Dellwing ließ sich nicht gern veräppeln.
Sammer verzog sich unter die Dusche und vergoss Tränen, fühlte sich schuldig für die nun wohl verpatzte Meisterschaft. Es wäre der denkbar schlechteste Abgang gewesen, hatte er wegen seines Wechsels zu Inter Mailand aus rein finanziellen Gründen (Sammer: „Es ging mir um die Kohle“) doch sowieso nicht mehr den allerbesten Stand bei Fans und Mitspielern. Nun versaute er ihnen auch noch den Titel – so schien es zumindest.
Doch der VfB gab nicht auf, angetrieben von Kapitän Buchwald, eigentlich ein defensiver Mittelfeldspieler, „von dem man kein Tor erwartet“, wie er selbst rückblickend sagt. In 334 Einsätzen in der Bundesliga kam er auf 28, in jener Saison waren es bis dahin vier. Aber sein Territorium war in diesen Minuten der gegnerische Strafraum und als es um 17.11 Uhr eine Ecke für den VfB gab, war er zur Stelle. Den abgewehrten Ball schlug Ludwig Kögl wieder vors Tor und da lauerte Buchwald und köpfte lehrbuchmäßig ein, auch weil er unbedrängt war. „Ich weiß selbst nicht, warum ich so frei war“, staunte Buchwald noch Jahrzehnte später in einem im SPORT1-Interview.
Es war das Tor zur Meisterschaft, denn auf den anderen Plätzen fiel nur noch eines gegen Frankfurt und so ging die Meisterschale dank der besseren Tordifferenz an den VfB Stuttgart. Matthias Sammer, der sie als Spieler und Trainer mit Borussia Dortmund noch dreimal holen sollte, hätte sein erstes Mal beinahe verpasst. Bis der Teamarzt mit der fröhlichen Botschaft kam.