Der tiefe Fall der Eis-Antiheldin

Der tiefe Fall der Eis-Antiheldin
Der tiefe Fall der Eis-Antiheldin

Als Arbeiterkind aus prekären familiären Verhältnissen stieg sie empor zum umjubelten Eiskunstlauf-Star, ehe ein ebenso trübes wie bizarres Kriminalstück um die Olympischen Winterspiele dauerhaft ihren Ruf ruinierte.

Das bisherige Leben von Tonya Maxene Price - besser bekannt unter ihrem Geburtsnamen Tonya Harding - war eine turbulente Achterbahnfahrt, die einen vorläufigen Tiefpunkt erreichte, als die US Ice Skating Federation sie wegen ihrer Rolle in dem Eisenstangen-Attentat auf ihre Rivalin Nancy Kerrigan lebenslang sperrte.

Es war das Ende ihrer eigentlichen Karriere, trotzdem ist die Geschichte des „Bad Girl“ des Wintersports bis heute in aller Munde - nicht zuletzt wegen der furiosen Leinwand-Verewigung durch den oscarprämierten Hollywood-Film „I, Tonya“ mit Margot Robbie 2017.

Was aber geschah damals eigentlich genau, welche Rolle spielte Harding dabei - und wie ging es mit ihr weiter?

1994: Der Eiskunstlauf-Skandal nimmt seinen Lauf

Rückblende, 6. Januar 1994: Kerrigan, große Hoffnungsträgerin bei Olympia in Lillehammer, wird Opfer des berühmten „Whack heard round the world“: Beim Training zu den US-Meisterschaften der Eiskunstläufer in Detroit wird sie von einem zunächst Unbekannten mit einer Eisenstange attackiert und am Knie verletzt.

„Why me, why me?“ - die markerschütternd gekreischte Frage der damals 24-Jährigen ist Breaking News im US-TV, über Stunden hinweg.

Tage später wird der Attentäter Shawn Eckhardt dingfest gemacht. Und gesteht das Ungeheuerliche: Angeheuert habe ihn Jeff Gillooly, damaliger Ehemann von Harding, der Vize-Weltmeisterin von 1991. Die oftmals operettenhafte Kufenwelt ist entsetzt, der US-Verband reagiert und sperrt die sportlich qualifizierte Harding - zwei Jahre zuvor Olympia-Vierte in Albertville - für die anstehenden Winterspiele.

Tonya Harding durfte trotz des Verdachts zu Olympia

Die seinerzeit 23 Jahre alte Hardin wehrt sich erfolgreich mit juristischen Mitteln, lässt ihre Anwälte auf die Unschuldsvermutung pochen. Dem Verband drohen immense Schadenersatzforderungen, er gibt klein bei und nimmt die US-Meisterin mit nach Norwegen zu den Winterspielen - womit das bizarre Amateur-Schurkenstück endgültig die große Bühne erobert.

Das erste gemeinsame Training der US-Läuferinnen in einer kleinen Eishalle in Hamar wird zu einem Weltereignis, das die Organisatoren vor Ort völlig überfordert. Eine halbe Stunde vor dem offiziellen Beginn muss die Mini-Arena wegen Überfüllung geschlossen werden. Polizisten sichern die Ein- und Ausgänge, mehrere TV-Stationen übertragen live vom Eis.

Hardings Trainerin spuken die skurrilen Szenen bis heute im Kopf herum. „Es war der pure Irrsinn, alles war wie elektrisiert. Als die beiden Mädchen einmal knapp aneinander vorbeiliefen, klickten gleichzeitig Hunderte von Kameras“, erinnerte sich Diane Rawlinson in einem Interview.

Auch für Nancy Kerrigan kein Happy End

Das Interesse an dem Showdown im bitterkalten Skandinavien ist auch deshalb so groß, weil die unglaubliche Posse einhergeht mit einem schon damals hollywoodreifen Gegensatz der Protagonistinnen.

Auf der einen Seite Kerrigan, die bildschöne Tochter aus wohlbehütetem Ostküsten-Hause. Auf der anderen Seite Harding, heute vor 54 Jahren in Portland geboren, in schwierigen Verhältnissen aufgewachsen. Eine rotzige Göre aus Oregon, die aber auf dem Eis Unglaubliches vollbringen konnte - als erster Läuferin überhaupt war ihr der dreifache Axel gelungen.

Bei der olympischen Kürentscheidung schaut die gesamte Welt auf das kleine norwegische Städtchen Hamar, allein 100 Millionen TV-Nutzer werden in den USA registriert. Dass die auch in Amerika legendäre Katarina Witt bei den Spielen einen Comebackversuch startet: Von Kerrigan vs. Harding völlig in den Schatten gestellt.

Gold für Harding oder Kerrigan? Das ist die große Frage, die alle bewegt - und die Antwort lautet am Ende: keine von beiden. Olympiasiegerin wird in dieser denkwürdigen Nacht Oksana Bajul aus der Ukraine, die mit einer magischen Performance nicht zu schlagen ist.

Silber geht an Kerrigan, Harding wird nur Achte. Es bleibt bis heute der letzte gemeinsame Auftritt. Harding soll mehrfach telefonisch ihre einstige Rivalin um Entschuldigung gebeten haben. Erfolglos. „Ich war stets nur das Opfer in dieser Affäre, mehr habe ich dazu nicht zu sagen. Ich bin vollauf damit beschäftigt, mein eigenes Leben zu leben“, erklärte Kerrigan vor einigen Jahren.

Harding wiederum hat mittlerweile ein Stück weit eingeräumt, was sie lange bestritten hat. „Ich wusste, dass da irgendetwas lief“, gestand sie im Rahmen einer zweistündigen ABC-Dokumentation über den Skandal. Ob mehr dran war oder ihr damaliger Mann tatsächlich der alleinige Drahtzieher hinter der gewalttätigen Verschwörung war: Nur die beiden wissen es.

Harding in „I, Tonya“ rockende Anti-Heldin

Eine Popkultur-Ikone wurde Harding trotz beziehungsweise gerade wegen dieses ungelösten Geheimnisses - noch mehr, seit ihr Hollywood 2017 mit „I, Tonya“ ein Denkmal setzte.

Während Kerrigan in der Mischung aus Drama und schwarzer Komödie eine schemenhafte Figur blieb, gehörte die Show voll und ganz dem Harding-Charakter, von den Machern um Regisseur Craig Gillespie als tragikomische Sympathieträgerin gezeichnet.

Geformt von eigenen schlechten Erfahrungen mit einer Rabenmutter (oscargekrönt porträtiert von Allison Janney), einem gewalttätigen Ehemann und einer heuchlerischen Eiskunstlauf-Welt kam sie in „I, Tonya“ als rockende Anti-Heldin herüber, die auch nur auf ihre Weise dem amerikanischen Traum nachjagt.

Hardings Leben bis heute bunt und kurios

Und die echte Harding?

Lebte auch nach dem Skandal ein hollywoodreifes Leben, schrieb Schlagzeilen mit Auftritten in TV-Shows, B-Filmen, im mexikanischen Wrestling und als Musikerin mit einer Band namens „Golden Blades“ - wobei sie von der Bühne gebuht wurde, wie so oft. Tiefpunkt war 1994 die Veröffentlichung eines Sextapes von Harding und Gillooly durch das Magazin Penthouse.

Nach der Jahrtausendwende folgte eine kuriose sportliche Zweitkarriere, nach einem Sieg beim Promi-Boxen über Paula Jones - eine der Frauen, die Ex-US-Präsident Bill Clinton Sex-Vorwürfe gemacht hatten - stieg sie noch als Profi sechsmal in den Ring (drei Siege, drei Niederlagen).

Geldnot soll der Antrieb gewesen sein für Harding, die sich ansonsten im heimischen Oregon mit glamourfreien Jobs als Schweißerin, Malerin und Verkäuferin über Wasser hielt.

Harding, seit 2010 in dritter Ehe verheiratet, trainiert immer noch regelmäßig Eislauf und ist weiter regelmäßig im US-TV präsent, 2018 war sie Siegerin des TV-Wettbewerbs „Die schlechtesten Köche Amerikas“.

Ein Zubrot verdient sie sich auch über die Social-Media-Plattform Cameo: Wer dort eine personalisierte Geburtstags- oder Weihnachtsbotschaft der berühmtesten Sport-Schurkin der Geschichte haben will, zahlte als Tarif aktuell 50 Dollar, ein Live-Videocall mit der berühmtesten Anti-Heldin der Olympia-Geschichte ist für 180 Dollar zu erwerben.