Der tiefe Fall einer Volksheldin

Der tiefe Fall einer Volksheldin
Der tiefe Fall einer Volksheldin

-Sie war eine der größten Leichtathletinnen ihrer Zeit, in ihrer Wahlheimat Schweden hatte sie den Rang einer Nationalheldin, auch wegen ihrer dramatischen Geschichte um eine überstandene Krebserkrankung, aber das unrühmliche Ende ihrer sportlichen Karriere hat einen Schatten auf ihr Vermächtnis gelegt.

Ludmila Engquist, Olympiasiegerin über 100 Meter Hürden bei den Spielen von Atlanta, wollte sich im Jahr 2002 mit einer historischen Errungenschaft bei Olympia verewigen: Als Bobfahrerin wollte sie in Salt Lake City die erste Frau waren, die Gold bei Sommer- und Winterspielen gewinnt.

Das gewagte Projekt flog unter skandalösen Umständen auseinander: Engquist wurde 2001 positiv auf Anabolika getestet und beendete ihre Laufbahn unter Tränen, als gefallene Heldin. Es war eine Affäre, die in Schweden so groß war wie hierzulande der Fall Jan Ullrich, womöglich größer.

Mit einer neuen Autobiografie ist die heute 60-Jährige nun wieder in den Schlagzeilen - und erzählt darin ihre Version der Geschichte. Engquist behauptet: Sie habe bewusst gedopt, um erwischt zu werden und alles hinter sich lassen zu können. Das Projekt Salt Lake City sei ihr über den Kopf gewachsen.

Nach WM-Titel im Doping-Zwielicht

Engquist hatte sich in den Jahren zuvor innerhalb kurzer Zeit die Herzen eines ganzen Landes erobert: Erst im Jahr 1996 war sie schwedische Staatsbürgerin geworden, nachdem sie zuvor unter ihrem früheren Namen Ludmila Naroschilenko eine Spitzenläuferin der UdSSR bzw. Russlands gewesen war.

Bei der Weltmeisterschaft in Tokio 1991 - legendär für das epische Weitsprung-Duell zwischen Mike Powell und Carl Lewis - gewann Naroschilenko ihren ersten WM-Titel. Zwei Jahre später allerdings geriet sie erstmals ins Zwielicht, als sie wegen Dopings vier Jahre gesperrt wurde.

Nach weiteren zwei Jahren wurde Naroschilenko vorzeitig begnadigt, sie selbst stellte sich als Opfer einer Verschwörung dar: „Mein russischer Mann hat mir aus Eifersucht Dopingmittel ins Essen gemixt.“

Goldmedaillen und Krebs-Drama verdrängten die Zweifel

Die zweite Ehe mit dem schwedischen Geschäftsmann Johan Engquist leitete auch einen sportlichen Neustart ein, Ludmila Engquist wurde schwedische Staatsbürgerin - und mit Gold in Atlanta sowie bei der WM in Athen 1997 zur Vorzeigefigur der schwedischen Leichtathletik.

Ihre Dopingsperre und dass Experten Zweifel anmeldeten an ihrer allzu filmreifen Unschuldsbehauptung blendeten viele aus. Spätestens nach der nächsten dramatischen Wendung ihrer Geschichte war die Vergangenheit kein Thema mehr.

Engquist wurde im April 1999 mit Brustkrebs diagnostiziert, kämpfte sich nach einer abgebrochenen Chemotherapie zurück auf die Bahn, lief im August bei der WM und holte Bronze. Sie war nun mehr als eine Spitzenathletin, sie war ein über den Sport hinaus wirkendes Vorbild, das ein ganzes Land inspirierte.

Wegen einer Knöchelverletzung musste Engquist dann als Leichtathletin aufhören, der Wechsel in den Bobsport und die Mission 2002 sollte ersatzweise zum letzten großen Coup werden. Ein Positiv-Test beim Weltcup in Lillehammer im Herbst 2001 beendete den Versuch.

Doping-Skandal erschütterte 2001 ganz Schweden

Engquist gestand das Doping ein, beendete ihre Karriere und zog sich völlig aus der Öffentlichkeit zurück, von viel Enttäuschung und Ärger begleitet. Der erneute Skandal verstärkte auch in Schweden die Zweifel an ihrer Behauptung, dass ihr vorheriger Skandal ein häusliches Komplott war. Von Deutschland aus meldete sich der 2022 verstorbene Doping-Experte Werner Franke voller Unverständnis, dass eine Krebs-Überlebende zu Steroiden griff und damit das Risiko einer erneuten Erkrankung erhöhte, sprach von „Frevel am eigenen Körper“.

Was Engquist antrieb? In ihrem neuen Buch „Ludmila, Swedes can no one be“, aus dem schwedische Medien nun zitieren, behauptet sie: Ihre Doping-Einnahme war bewusste Eigensabotage.

Sie habe im Sommer 2001 in Russland ein mit der illegalen Substanz Methandrostenolon belastetes Proteinpulver gekauft und eingenommen. Sie hätte erwischt werden wollen, um sich einen Ausweg aus der Winter-Olympiamission zu verschaffen.

Ludmilla Engquist spricht von Eigensabotage

„Ich habe das Bobfahren gehasst. Es war ein kompletter Albtraum. Ständiges Unbehagen; vor, während und nach dem Training - Tag und Nacht“, berichtet Engquist, sie hätte Depressionen bekommen und sich zurückziehen wollen: „Es war aber unmöglich, einen Rückzieher zu machen, das Tempo war zu hoch und die Einsätze waren zu groß, auf allen Ebenen. Es wurden enorme Anstrengungen unternommen, prominente Sponsoren eingebunden und alles drehte sich um meinen Namen.“

Die Wahrheit oder erneut eine schöne Geschichte, um ihre Doping-Vita nachträglich schönzufärben? Es wird das Geheimnis Engquists bleiben, die heute mit ihrem Mann in Spanien lebt, fernab der schwedischen Öffentlichkeit, die von ihrer Geschichte bis heute bewegt ist.

So oder so: Engquist hat ihren Frieden mit der neuen Rolle als gefallene Heldin gemacht und lebt ihr eigenes Leben. Ihrem Absturz kann sie heute Gutes abgewinnen, zumal sie ohne ihn womöglich nicht mehr spät Mutter geworden wäre: „Wenn ich mir nicht das Leben mit Dopingpulver ruiniert hätte, hätte es Elias nicht gegeben. Ich habe große Fehler gemacht und bin in gewisser Weise ein Produkt meiner Misserfolge. Sie haben mich geprägt, im Guten wie im Schlechten.“