Das tragische Ende einer amerikanischen Gigantin

Das tragische Ende einer amerikanischen Gigantin
Das tragische Ende einer amerikanischen Gigantin

Der Tod nahm keine Rücksicht auf die heroischen Verdienste von Wilma Rudolph, er riss sie schnell und mitleidlos aus ihrem einzigartigen Leben.

Im Juli 1994 wurde bei der früheren Ausnahme-Leichtathletin ein Hirntumor und Kehlkopfkrebs festgestellt. Binnen weniger Monate starb die nur 54 Jahre alte Olympia-Ikone am 12. November, heute vor 30 Jahren.

Die Sportwelt verlor damit eine ihrer größten und beeindruckendsten Athletinnen und Amerika ein inspirierendes Vorbild und eine unbeirrte Kämpferin gegen eine bis heute grassierende Ungerechtigkeit.

Kaum jemand hat den olympischen sowie den amerikanischen Traum vom scheinbar unmöglichen Aufstieg aus scheinbar ausweglosen Verhältnissen so sehr verkörpert wie Rudolph. Aber kaum jemand wusste auch so gut wie die einst schnellste Frau der Welt, dass dieser Traum auch flüchtig und verlogen ist.

Vom gelähmten Kind zur schnellsten Frau der Welt

Wilma Rudolph kam am 23. Juni 1940 im heutigen Clarksville auf die Welt. Sie war das 20. von 22 (!) Kindern eines Gepäckträgers und Gelegenheitsarbeiters, wuchs auf in bitterer Armut und unter dem institutionalisierten Rassismus der US-Südstaaten.

Rudolph wurde von Mutter Blanche, einer Dienstbotin, als 2 Kilo leichtes Frühchen geboren und hatte als Kind schwere gesundheitliche Probleme: Sie erkrankte mit vier Jahren an Scharlach, einer doppelten Lungenentzündung und mit fünf - bevor es einen Impfstoff gab - an der Kinderlähmung Polio.

Die junge Wilma konnte über lange Zeit ihr linkes Bein nicht bewegen und spürte auch bei ihrer Behandlung die Folgen der Rassentrennung: Um ein für schwarze Patientinnen zugelassenes Krankenhaus zu erreichen, musste sie mit ihrer Mutter jede Woche 70 Kilometer hin und zurück mit dem Bus pendeln.

„Die Ärzte haben mir gesagt, dass ich wohl nie mehr laufen können würde“, berichtete Rudolph später: „Meine Mutter sagte das Gegenteil. Ich glaubte meiner Mutter.“

Wilma Rudolph kämpfte sich durch eine jahrelange Therapie - mit einer Beinschiene, später einem orthopädischen Schuh, mit ständigen Massagen ihrer Familie. Sie kämpfte sich bis an den Punkt, an dem sie nicht nur laufen, sondern auch Leistungssport treiben konnte. Und wie.

Historischer Triumphzug bei Olympia 1960 in Rom

Rudolph begann an der Highschool als Basketballerin. Das Talent, das sie dabei offenbarte, machte Ed Temple auf sie aufmerksam, den Leichtathletik-Trainer der Tennessee State University.

Schon vor der Aufnahme ihres Studiums tat sich Rudolph in Trainingscamps als Verheißung in den Laufdisziplinen hervor und qualifizierte sich mit 16 für Olympia in Melbourne - wo sie Bronze mit der 4x100-Meter-Staffel der Frauen errang.

Die 1,80 Meter große Rudolph wog in Melbourne nur 45 Kilo, vier Jahre später war ihr Wettkampfgewicht um 20 Kilo erhöht. Und die junge Mutter, die noch an der Highschool ihr erstes Kind bekam, war nun endgültig bereit, die Welt zu erobern.

Bei den Olympischen Spielen in Rom 1960 wurde Rudolph zum internationalen Star und schrieb Geschichte als erste Leichtathletin, die bei einer Olympia-Veranstaltung drei Goldmedaillen gewann - über 100 Meter, 200 Meter und die 4x100-Meter-Staffel.

In den internationalen Medien bekam Rudolph den Spitznamen „Schwarze Gazelle“ - ohne spürbares Bewusstsein für den herabwürdigenden Unterton. In der amerikanischen Heimat spürte Rudolph den Zweispalt aus Bewunderung und Herablassung noch deutlicher.

Wilma Rudolph pochte auf ein Zeichen gegen den Rassismus

Zuständig für den offiziellen Empfang im Geburtsstaat Tennessee war Gouverneur Buford Ellington, lautstarker Befürworter der langsam unter Druck geratenen Rassentrennung. Und nur weil Rudolph damit drohte, ihren „Welcome Wilma Day“ zu boykottieren, wurde die Segregation zwischen schwarz und weiß für den Festempfang aufgehoben - das erste Mal überhaupt für ein öffentliches Ereignis in der Stadt.

Rudolph gehörte - wie Jesse Owens, Joe Louis, Jackie Robinson - zu den schwarzen Sportidolen, die ihren Beitrag dazu leisteten, dass die „color line“ in Sport und Gesellschaft fiel. Dass viele Dinge sich trotzdem nur langsam oder gar nicht änderten, bemerkte Rudolph nur wenige Wochen nach ihrem historischen Heimkehrfest, als ihrem bald darauf verstorbenen Vater der Eintritt in ein Restaurant verwehrt wurde.

In den sechziger Jahren engagierte sich Rudolph aktiv für die Bürgerrechtsbewegung und sah dabei auch ihre eigene Rolle zunehmend desillusioniert.

„Heute weiß ich, dass ich missbraucht worden bin“

„Ich bin als Symbol des freien Amerikas gefeiert worden“, sagte sie 1972 im Vorfeld der Olympischen Spiele in München in einem Interview dem Stern: „Heute weiß ich, dass ich missbraucht worden bin.“

Mit Frustration blickte Rudolph damals sowohl auf den konservativen „roll back“ der USA unter Präsident Richard Nixon als auch auf den berühmt-berüchtigten Olympia-Boss Avery Brundage, für schwarze Athleten nicht nur wegen seiner Rolle in der Affäre Tommie Smith und John Carlos ein Feindbild. „Ich verachte ihn, er ist ein Rassist“, schimpfte Rudolph - und hielt fest, dass sie ihm die Medaillen „vor die Füße werfen“ hätte sollen und noch lauter gegen das diskriminierende System hätte kämpfen sollen.

Rudolph ging so weit, dass sie zeitweise mit den militanten „Black Panthers“ sympathisierte - wie Box-Idol Muhammad Ali, mit dem sie Anfang der Sechziger kurz liiert war.

Rudolph inspiriert bis heute viele

Der athletische Höhepunkt Rudolphs kam zu einem Zeitpunkt, an dem sie nicht von ihrem sportlichen Ruhm leben konnte.

Nach ihrer Karriere arbeitete sie als Lehrerin, Gemeindezentrumsleiterin und Pressesprecherin, ihre eigene Geschichte erzählte die sechsfache Mutter in diversen Büchern und vielen Vorträgen weiter.

Wilma Rudolphs Leben endete am 12. November 1994 viel zu früh. Als inspirierendes Vorbild für kommende Generationen lebt sie fort, trotz oder gerade wegen der Dinge, die auch sie nicht ändern konnte.