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Spurensuche in Rumänien: Ehemalige Fleischfabrik-Mitarbeiter packen aus

Ein stark recherchiertes "RTL Extra Spezial" nimmt das "System Tönnies" auseinander. Der renommierte Wirtschaftsermittler Tamer Bakiner findet unlautere Werkverträge in Rumänien und die Reporter einen Unternehmer, der sie nach Gutsherrenart per Polizeieinsatz aus dem Wald werfen lässt.

Dass sich die Stimmung gegen Clemens Tönnies dreht, den größten Fleischfabrikanten Deutschlands, ist nichts Neues. Seit den Massenausbrüchen in Tönnies' Stammwerk in Rheda-Wiedenbrück, wo sich innerhalb weniger Tage 1.500 Mitarbeiter mit dem Corona-Virus infizierten, schaut ein Land genauer auf die Zustände in der deutschen Fleischindustrie. Man möchte sagen: endlich. Denn wer auf seinem 500 Euro teuren Grill Fleisch zum Kilopreis von 1,99 Euro braten möchte, wie es der Gütersloher Landrat Sven-Georg Adenauer in der Reportage anschaulich macht, schaute lange Zeit vielleicht lieber nicht so genau hin.

Gesetzesvorlage: Gewerkschaft fordert konsequente Regulierung der Fleischbranche

Genau das tut jedoch die sehenswerte, erfreulich seriös recherchierte RTL-Reportage "Tamer Bakiner - Das System Tönnies". Seit Dienstagmorgen kann man sie beim Streamingdienst TVNOW abrufen oder am Dienstag, um 23.30 Uhr, auch noch mal bei n-tv sehen. Binnen einer Stunde informieren die Filmemacher detailliert über die Praxis der Werkverträge und die Behandlung von Tönnies-Arbeitern. Sie verdeutlichen anhand verschiedener Simulationsexperimente, wie sich das Virus unter den Arbeits- und Lebensbedingungen der meist aus Rumänien und Bulgarien stammenden Werktätigen ausbreiten konnte. Man versuchte auch, Clemens Tönnies zu einer Stellungnahme zu bewegen. Dieses Unterfangen wirft vielleicht das deutlichste Schlaglicht auf den Unternehmer, der die freundlich fragenden Reporter zuerst bedrängt und dann mithilfe eines stark übertrieben wirkenden Polizeieinsatzes - wohlgemerkt in der Nähe seines Grundstücks - vertreiben lässt.

Stundenlohn: 4 Euro!

Das RTL-Experiment beginnt allerdings mit dem Scannen eines QR-Codes auf Fleischverpackungen. Mithilfe solcher Codes könnten Verbraucher mittlerweile sehen, von wo ihre Nahrung stammt und wer sie produzierte. Tamer Bakiner scannt die Nummer unter dem Haltbarkeitsdatum und erhält die Namen von zwölf (!) Unternehmen, die für die Herstellung eines Fleischproduktes verantwortlich sind - darunter auch Tönnies. Ein klassischer Fall von Diffusion der Verantwortung.

Überhaupt scheint Verschleierung unter deutschen Fleischproduzenten gang und gäbe - ein Wirtschaftszweig, in dem Arbeitsminister Hubertus Heil nun aufräumen will. In die RTL-Kamera sagt er: "Es ist nicht in Ordnung, dass inzwischen 80 Prozent der Mitarbeiter in einer solchen Fabrik der Fleischindustrie nicht mehr fest angestellt sind. Dass mit hoher, teils krimineller Energie dafür gesorgt wird, dass die Löhne gedrückt werden, dass die Leute in furchtbaren Unterkünften leben. Deshalb werden wir gezielt in dieser Branche aufräumen. Werkverträge und Leiharbeit wird es in dieser Branche nicht mehr geben." Für Januar 2021 wird eine entsprechende Gesetzesnovelle erwartet.

Wie das Werkvertrags-Modell funktioniert, recherchiert Tamer Bakiner im rumänischen Bukarest und Umgebung, wo er ehemalige Tönnies-Arbeiter aufspürt. Deren Anstellung soll den Recherchen zufolge wie folgt verlaufen sein: Tönnies schließt mit einem ausländischen Unternehmen einen sogenannten Werkvertrag. Für die Schlachtung von beispielsweise einer Million Schweine wird eine gewisse Summe gezahlt. Dafür stellen Firmen wie MGM vorwiegend Arbeiter aus Rumänien oder Bulgarien ein.

Eine Ex-Mitarbeiterin zeigt ihren Vertrag in die Kamera, in dem der damals gültige Mindestlohn von 8,60 Euro festgehalten ist. Auch Überstunden werden erwähnt. Neben 40 Wochenarbeitsstunden sind bis zu acht Überstunden zumutbar, heißt es. Tatsächlich seien jedoch oft zwölf Stunden pro Tag geleistet worden - bis zu sieben Tage die Woche sei gearbeitet worden. Das berichten übereinstimmend mehrere Ex-Arbeiter unabhängig voneinander. Dazu taucht ein ominöser Vorschuss von 200 Euro, der offenbar nie gezahlt wurde, in mehreren Verträgen auf. Bei einer Arbeiterin kommt die Reportage so auf einen Stundenlohn von 5,20 Euro. Ein anderer Arbeiter bekam lediglich vier Euro. Ihm sollen noch Gebühren für Wohnungs- und Fernsehnutzung abgezogen worden sein - auch dies wohl gängige Praxis.

"Schweigesystem" Tönnies

RTL konfrontiert Tönnies-Subunternehmer MGM mit Fragen nach dieser Vertragspraxis, aber die Firma antwortet nicht. Sie sendet aber TV-Werbespots im rumänischen Fernsehen, in denen für einen "Neuanfang im Leben" geworben wird. Für einen Job in der deutschen Lebensmittelindustrie, der "gleiche Rechte und Pflichten wie deutsche Arbeiter" bereithält. Zurück in Rheda-Wiedenbrück erzählt ein türkischer Tankstellenbetreiber, bei dem viele Arbeiter aus den nahen Tönnies-Massenunterkünften einkaufen, dass sich viele von ihnen ein Bett teilen. Während der eine schläft, muss der andere arbeiten. Oft gebe es einen Anführer oder Aufpasser in den Wohnblöcken, der unliebsame Fragensteller von der Presse vertreibt.

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Doch in Rumänien geht es diesen Leuten noch schlechter - deshalb schweigen sie lieber über ihre katastrophalen Lebensbedingungen zugunsten des deutschen Billig-Fleischs. In die Quartiere lassen sie einen - seit Corona - nicht mehr rein. Und auch sonst will man verhindern, dass Videos wie jenes auftauchen, das - während in ganz Deutschland Kontaktbeschränkungen herrschten und Restaurants, Schulen und Arbeitsplätze geschlossen blieben - Tönnies-Arbeiter mit fehlendem Abstand beim Essen oder am Fließband zeigten. "Arbeiter dürfen nicht mit dem Handy zur Arbeit kommen. Es gibt an jedem Eck eine Videokamera", erklärt Tamer Bakiner das "Schweigesystem" Tönnies. Medien-Anfragen an die Firma, so RTL, werden in der Regel direkt vom Anwalt beantwortet.

"Es ist auf jeden Fall eine Sache für den Staatsanwalt"

Auch ein kurzer Blick auf den Menschen Clemens Tönnies wird geworfen. Sein Vermögen wird auf 1,4 bis 2 Milliarden Euro geschätzt. Auch die Fehde zwischen Clemens und seinem Neffen Robert Tönnies wird thematisiert, dem Sohn des früh verstorbenen Bruders und Firmengründers. Seit Jahren kritisiert der 42-Jährige auch die Werksvertrag-Praxis, so die RTL-Reportage. Die beiden Firmenverantwortlichen sollen vorwiegend über Anwälte kommunizieren, obwohl sie nur wenige Straßen in Rheda-Wiedenbrück auseinander wohnen.

Am Ende des einstündigen Films steht ein Aerosol-Experimente der Filmemacher, die mithilfe eine E-Zigarette untersuchen, wie sich Atemluft in einem auf Fleischfabrik-Zustände heruntergekühltem Container verbreitet: "Unser Experiment hat gezeigt", so der Arbeitsmediziner und Hygiene-Spezialist Walter Popp, "dass die Umstände und gravierenden Verstöße gegen die Hygieneregeln offenbar mitverantwortlich für den Ausbruch bei Tönnies sind. Schon nach einer Stunde hat man möglicherweise eine Dosis abbekommen, die für eine Infektion ausreicht. So etwas passiert nicht von heute auf morgen, sondern das ist dort verpennt und offensichtlich bewusst verdrängt worden. Es ist auf jeden Fall eine Sache für den Staatsanwalt."

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Auch Carl-Josef Laumann, Gesundheitsminister von NRW, wählt mittlerweile drastische Worte, wenn es um die von Tönnies geforderten finanziellen Hilfen wegen der für vier Wochen unterbrochenen Produktion geht. "Ich habe keinen Bock, dass ich Herrn Tönnies oder den Subunternehmern irgendetwas überweise", sagt der CDU-Politiker. Eine Woche nach Wiedereröffnung von Tönnies' Fleischfabrik sind übrigens 31 Corona-Tests positiv ausgefallen. Kein gutes Zeichen für den Neubeginn in der deutschen Fleischindustrie.

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