Stabilität oder mehr Geld? Die Griechen haben die Wahl

Athen (dpa) - Kaum zu glauben, aber wahr: Nach zehn Jahren schwerer Finanzkrise, Fast-Pleite und drohendem Euro-Austritt sowie drei Jahren Corona-Pandemie ist Griechenlands Wirtschaft 2022 fast doppelt so stark gewachsen wie der europäische Durchschnitt. Das Wirtschaftsmagazin «Economist» bejubelt eine «europäische Erfolgsstory», die «Financial Times» schreibt gar vom «Wachstums-Tiger Europas».

Auf das Erreichte können Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis und seine Partei Nea Dimokratia (ND), mit der er das Land seit vier Jahren alleine regiert, durchaus stolz sein. Doch obwohl die ND laut Umfragen mit rund 33 Prozent gut 7 Prozentpunkte vor der linken Oppositionspartei Syriza liegt, ist eine zweite Amtszeit nach den Parlamentswahlen an diesem Sonntag längst nicht gesichert.

Innerhalb der EU gehört Griechenland noch immer zu den Ländern, wo das Risiko für die Menschen am höchsten ist, in Armut abzurutschen. Stärker von Armut bedroht sind nur die Menschen in Bulgarien und Rumänien. Das zeigt: Die Maßnahmen der Regierung kommen bei den Griechen noch nicht an - obwohl sie beachtlich sind.

Investitionen in die Digitalisierung

Unter Mitsotakis sank die Arbeitslosigkeit von 18,9 Prozent auf aktuell 10,9 Prozent. Renten und Mindestlohn wurden erhöht, die Unternehmenssteuer von 29 auf 22 Prozent gesenkt und trotzdem der gewaltige Schuldenberg des Landes weiter gemindert.

Zudem investierte die Regierung in die Digitalisierung des Landes und der Behörden - den Führerschein und den Personalausweis können die Griechen mittlerweile auf dem Handy dabei haben, online ihr Auto ummelden, den Verkauf ihrer Immobilie abwickeln und sich sogar scheiden lassen. Während Corona war Griechenland der erste EU-Staat, der den digitalen Impfnachweis einführte.

In der Folge haben Unternehmen wie Microsoft, Google und Pfizer Griechenland als Standort entdeckt. Internationale Ratingagenturen stehen kurz davor, das Land wieder als «investitionswürdig» einzustufen - allerdings nur, wenn es so weiterläuft wie bisher.

Ex-Ministerpräsident Tsipras will Wandel

Ein Weiter so aber kommt für die Opposition nicht in Frage. Sie verspricht Wandel, allen voran die linke Syriza unter Parteichef und Ex-Ministerpräsident Alexis Tsipras. Ihr Wahlmotto fordert einen «Vertrag für die Wende» und «Gerechtigkeit überall». Mitsotakis sei ein Technokrat, ja, Autokrat, dem das Wohl der Menschen gleichgültig sei, kritisiert Tsipras und kündigt an, den Mindestlohn noch stärker erhöhen zu wollen und die Löhne im öffentlichen Dienst sofort um 10 Prozent zu steigern, wenn er an die Macht kommt. Rentner sollen dann außerdem pro Jahr eine zusätzliche Rentenzahlung erhalten, zudem will Syriza die Renten im kommenden Jahr um 7,5 Prozent anheben.

Wie Tsipras das bezahlen wolle, hält Mitsotakis dagegen und wird nicht müde, die Menschen auf «Stabilität und Kontinuität» einzuschwören. Er will weitere vier Jahre alleine regieren, um den eingeschlagenen Kurs fortzusetzen. «Es ist völlig klar, dass der Bürger die langfristige wirtschaftliche Entwicklung noch nicht im Geldbeutel spürt», sagt er und verweist neben dem langen Weg aus der Finanzkrise auch auf die weltweite Teuerungswelle seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine.

Zugunglück mit 57 Toten wirkt noch nach

Viele Wähler erkennen das an, in anderen Punkten gibt es aber auch massive Kritik. So hängt Mitsotakis weiter der Abhörskandal im vergangenen Jahr nach, als aufflog, dass der griechische Nachrichtendienst die Handys etlicher Politiker und Journalisten abhörte. Dass der Ministerpräsident davon nichts wusste, wie er behauptet, glauben viele Menschen nicht - immerhin war sein Neffe als Stabschef der Regierung für den Nachrichtendienst verantwortlich.

Auch das katastrophale Zugunglück mit 57 Toten im vergangenen Februar in der mittelgriechischen Gemeinde Tempi wirkt nach, weil es die schweren Versäumnisse des Staates bei der Bahn und den desolaten Zustand des Schienennetzes offenlegte. Zwar wurde die Bahn seit Jahrzehnten von allen griechischen Regierungen vernachlässigt, doch viele sehen die Verantwortung bei Mitsotakis und seiner Mannschaft, habe sie sich doch Fortschritt auf die Fahne geschrieben.

Gefährdet ist ein neuer Regierungsauftrag an die Konservativen jedoch vor allem wegen einer Art politischer Landmine, die Vorgänger Tsipras hinterlassen hat. Während dessen Amtszeit wurde 2018 das Wahlgesetz geändert, das nun erstmals angewendet wird. Früher wurden der stärksten Partei nach der Wahl automatisch 50 Sitze im 300-köpfigen Parlament zugeschlagen. Das vereinfachte die Regierungsbildung, aber die kleineren Parteien hatten das Nachsehen und es kam meist zu Ein-Partei-Regierungen. Tsipras setzte die einfache Verhältniswahl durch - und will nun mit einer Mitte-Links-Koalition Veränderung herbeiführen. Syriza selbst liegt laut Umfragen bei rund 25 Prozent.

Wie wird die künftige Regierung aussehen?

Doch Griechenland hat in den vergangenen Jahrzehnten kaum und wenn dann schlechte Erfahrungen mit Koalitionen gemacht, und die Auswahl der potenziellen Partner ist nicht gerade üppig. Die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE), die laut Umfragen bei rund 6,3 Prozent liegt, fühlt sich in ihrer Oppositionsrolle wohl. Sie kommt höchstens insofern in Frage, als dass sie eine Minderheitsregierung dulden könnte - das aber hat der Parteichef bereits ausgeschlossen.

Die sozialistische Pasok ist mit Umfragewerten von rund 9 Prozent als Partner für Syriza interessanter, könnte sich letztlich aber auch mit der konservativen ND einigen. Die rechtspopulistische Elliniki Lysi (Griechische Lösung) geht für Syriza aus ideologischen Gründen nicht. Und die linke Partei des berühmt-berüchtigten ehemaligen Finanzministers Giannis Varoufakis, Mera25, dürfte gerade mal die geltende 3-Prozent-Hürde schaffen. Sie schließt eine Koalition mit Syriza bisher ebenfalls aus - und Varoufakis verschreckt viele Wähler mit dem Plan, eine Parallelwährung zum Euro einführen zu wollen.

Wie es nach der Wahl weitergeht, dafür gibt es etliche Szenarien. Das wahrscheinlichste ist ein zweiter Urnengang im Juli - das schlimmste ein dritter im September, sollte zweimal keine Regierungsbildung gelingen. Dann aber läuft das Land Gefahr, das hart erkämpfte Vertrauen der internationalen Politik- und Wirtschaftswelt wieder zu verspielen.