Wohin steuert die Klimapartei? - Austritte, Rücktritte, Umfragetief: „Goldene Zeiten der Grünen sind erst mal vorbei“

Bundesagrarminister Cem Özdemir (l.) (Grüne) und Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang (r.)<span class="copyright">IMAGO/Political-Moments</span>
Bundesagrarminister Cem Özdemir (l.) (Grüne) und Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang (r.)IMAGO/Political-Moments

Die Grünen stecken in einer Krise. Der Bundesvorstand hat seinen Rücktritt angekündigt, Jungpolitiker verlassen scharenweise die Partei. Interne Konflikte werden immer offensichtlicher. Wohin steuert die Partei?

Bei den Grünen folgt ein Paukenschlag auf den nächsten, die Partei ist im Dauer-Krisenmodus. Aus zwei Landtagen sind sie rausgeflogen. Ricarda Lang und Omid Nouripour sind als Parteivorsitzende zurückgetreten.

Die Spitze der Grünen Jugend legte nicht nur ihre Ämter nieder, sondern kehrt der Klimapartei komplett den Rücken. Zahlreiche Jung-Grüne sind diesem Vorbild gefolgt.

Und als wäre das nicht dramatisch genug, sind da auch noch die miesen Umfragewerte, gemessen an früheren Zeiten. Wenn nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre, kämen die Grünen nur noch auf zehn bis zwölf Prozent der Stimmen.

Politologe: „Goldene Zeiten der Grünen sind vorbei“

„Ihre  goldenen Jahre sind wohl erst mal vorbei“, sagt Norbert Kersting im Gespräch mit FOCUS online. Er arbeitet als Professor für Vergleichende Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Kommunal- und Regionalpolitik am Institut für Politikwissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

Gründe dafür gibt es viele. Ganz generell, so erklärt es Kersting, werden die Grünen „durch soziale Bewegungen getragen“. Damit meint er zum Beispiel die Klimabewegung, die noch vor wenigen Jahren viel Raum im öffentlichen Diskurs einnahm.

Inzwischen prägen aber nicht mehr „Fridays for Future“, sondern Themen wie Zuwanderung und der Ukraine-Krieg die politischen Debatten. Dazu kommen öffentlich ausgetragener Streit mit den Ampel-Partnern und Schnitzer grüner Ministerien - Stichwort: Gebäudeenergiegesetz.

Intern brodelt es bei den Grünen offenbar. Kersting beobachtet, dass „alte Konflikte“ zwischen Realos und Linken, die man lange stillschweigend im Hintergrund lösen wollte, jetzt hochkochen.

Özdemirs Gastbeitrag gefiel einigen Grünen wohl gar nicht

„Der konservative Flügel wächst und die Partei ist zunehmend gespalten, das sieht man etwa beim Thema Waffenlieferungen in die Ukraine oder bei Migrations- und Asylfragen“, sagt Kersting.

Ein aktuelles Beispiel ist der Gastbeitrag, den Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ) verfasste. Darin plädiert der Politiker, der dem Realo-Flügel zugeordnet wird, für einen Kurswechsel in der Asyl- und Zuwanderungspolitik.

Özdemir schreibt, dass seine Tochter und ihre Freundinnen „von Männern mit Migrationshintergrund unangenehm begafft oder sexualisiert“ würden. Er könne ihre Erfahrungen nicht ignorieren. „Als Vater will ich es nicht, als Politiker darf ich es nicht.“

Özdemir meint: „Das liberal-progressive Lager ist gefordert, die notwendigen Änderungen an der Asyl- und Migrationspraxis umzusetzen, gerade weil es das glaubhaft ohne den Anschein falscher Beweggründe tun kann.“

Positionspapier aus dem linken Flügel

Der Beitrag soll einigen Grünen übel aufgestoßen sein, wie der „Spiegel“ berichtet. Das ist kaum verwunderlich: Gibt es doch gleichzeitig Texte wie das Positionspapier „Zurück zur Vernunft“ von Julian Pahlke und Erik Marquardt, beide linker Flügel.

Die Politiker fordern einen „Pakt für gesellschaftlichen Zusammenhalt“, zitiert der „Spiegel“ aus dem Pamphlet. Dem Nachrichtenmagazin liegt das Schreiben vor.

Der „Pakt“ soll, so Pahlke und Marquardt, der Sicherheit der Menschen dienen, die „täglicher Diskriminierung und Ausgrenzung ausgesetzt sind“. Die beiden Grünen verlangen „eigene Antworten in der Migrationsdebatte“.

Forderungen nach einem Aufnahmestopp, Zurückweisungen, dem Entzug von Sozialleistungen oder Abschiebungen im großen Stil sind in ihren Augen Teil eines rhetorischen „Überbietungswettbewerbs“.

Grüne strecken Fühler zur Union aus

Interessant ist, dass einige Grünen-Politiker aus dem Realo-Flügel jetzt die Fühler zur Union ausstrecken. Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt zeigte sich im Gespräch mit der „Neuen Osnarbrücker Zeitung“ (NOZ) zuletzt offen für eine schwarz-grüne Koalition im Bund.

„Wir regieren in vielen Ländern mit demokratischen Parteien in verschiedenen Konstellationen. Dass wir erschöpft davon sind, im Bund mit SPD und FDP zu regieren, spürt man sicherlich“, so die Grüne.

Und auch Franziska Brandtner, aussichtsreiche Kandidatin für den Bundesvorsitz, zeigte sich aufgeschlossen für eine Zusammenarbeit mit der Union auf Bundesebene.

Im Gespräch mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) verwies sie auf die grün-schwarze Koalition in Baden-Württemberg - also das Bundesland, aus dem sie stammt. Demokraten sollten „nicht immer gleich sagen, mit welchen anderen Demokraten sie nicht können. Wir sollten lieber schauen, was wir gemeinsam hinbekommen können“.

Politologe: Grüne wollen in Regierungsverantwortung bleiben

Für Politologe Kersting ist klar: Die Grünen wollen weiter in Regierungsverantwortung bleiben. „Das ist das Ziel, und es hat sich schon seit Jahrzehnten abgezeichnet“, sagt er. „Die Grünen haben gemerkt, dass sie ein Koalitionspartner sein können.“

An Göring-Eckardt und Brandtner sieht man laut dem Politologen, dass sich zumindest Mitglieder des Realo-Flügels eine Zusammenarbeit mit der Union auf Bundesebene vorstellen können.

In seinen Augen sind die Grünen über die Jahre bürgerlicher geworden. „Das macht sie koalitionsfähiger - befeuert aber auch innerparteiliche Konflikte, weil Mitglieder des linken fundamentalistischen Flügels sich nicht mehr genug anerkannt fühlen.“

Hubert Kleinert, Professor für Politik, Zeitgeschichte und Sozialwissenschaften an der Hessischen Hochschule für Öffentliches Management und Sicherheit in Gießen, gehörte 1983 der ersten Grünen-Fraktion im Bundestag an. Er schlägt im Gespräch mit FOCUS online ähnliche Töne wie Kersting an.

„Dass die Grünen jetzt Offenheit zur Union hin demonstrieren, hat in erster Linie damit zu tun, dass sie sehen, dass die Ampel hochwahrscheinlich keine Zukunft hat“, meint der Professor. „Wahrscheinlicher wird Schwarz-Grün deshalb freilich nicht.“

Merz schließt Schwarz-Grün nicht grundsätzlich aus

Denn es geht bei einer möglichen Zusammenarbeit mit der Union auf Bundesebene - ohnehin Zukunftsmusik - nicht allein um die Grünen. Auf der Gegenseite herrscht wenig Begeisterung. CSU-Chef Markus Söder lehnt Schwarz-Grün klar ab, genauso seine Parteikollegen Alexander Dobrindt und Martin Huber.

Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz schließt eine Koalition mit den Grünen im Bund derzeit zwar aus, aber nicht zwangsläufig auch für die Zukunft. Es liege an den Grünen, sich zu ändern, sagte er vor einigen Wochen in der ARD. Nur: Können, wollen sie das?

Kersting meint: Nein. „Ich glaube nicht, dass sich die Grünen stark verändern werden, trotz der Jung-Grünen, die die Partei verlassen wollen und dem Wechsel an der Bundesspitze.“

Bleiben also in vielen Bereichen, vor allem auch der Asyl- und Zuwanderungspolitik, geradezu konträre Positionen. Für Kleinert eine verfahrene Situation. „Ohne einen realpolitischen Neuansatz werden die Grünen kaum eine dauerhafte Chancen haben, in die Mitte der Gesellschaft hineinzuwirken und eine machtpolitische Gestaltungsrolle zu behalten“, sagt er. Kleinert hält es für notwendig, dass die Grünen ihre „Bremserrolle“ beim Thema Migration aufgeben und auch einen neuen Ansatz in Sachen Klimapolitik finden.

„Beide Parteien brauchen einen Partner“

Kersting hat auf den ersten Punkt einen anderen Blick. „Migration ist kein Gewinnerthema, das hat die Union längst gemerkt. Es hat der AfD in die Karten gespielt, die Ergebnisse der CDU im Osten waren trotz aller Euphorie im Vergleich zu den vergangenen Jahren schlecht.“

Das stützen die offiziellen Zahlen: In Sachsen und Brandenburg verlor die CDU im Vergleich zu den Wahlen 2019 an Zustimmung. Und in Thüringen lag sie lediglich 1,9 Prozent über dem Ergebnis von vor fünf Jahren.

Politologe Kersting hat den Eindruck, dass die Union das Thema Migration möglichst jetzt abwickeln und die heiße Phase des Bundestagswahlkampfes mit anderen Themen bestreiten will.

„So bleibt Schwarz-Grün eine Option. Am Ende brauchen beide Parteien einen Partner, um zu regieren. Und ich gehe davon aus, dass die Grünen trotz aller Streitigkeiten und Kritik nächstes Jahr ein zweistelliges Ergebnis einfahren werden.“