Stimmung im Osten unterschätzt - „Scheinriese AfD“ – so arrogant reagierte Ampel 2023 auf meine Thüringen-Reportage

Im Juli 2023 veröffentliche FOCUS online eine Reportage aus Thüringen, wo 14 Monate später Landtagswahlen anstanden. Die Stimmung damals: Pure Wut auf die Ampel, große Zustimmung für die AfD. Die Reaktionen aus Berlin wirken im Rückblick entlarvend.

  • Im Video oben: ARD-Doku hält für AfD-Wähler eine bittere Wahrheit bereit

Vor gut 14 Monaten bin ich durch Thüringen gefahren. Ich habe bei wildfremden Menschen geklingelt und Leute auf dem Dorfplatz angesprochen. Ich habe mit Handwerkern geredet, die auf dem Baugerüst standen, und Mechanikern, die Autos reparierten. Mit Rentnern, Krankenpflegern, Schülern, mit jungen Müttern und alten Arbeitslosen, Lokalpolitikern.

Ich wollte wissen, wie die Stimmung in der Mitte Deutschlands ist. Eigentlich kenne ich Thüringen ganz gut. Thüringen ist meine Heimat. Ich bin hier – noch zu tiefsten DDR-Zeiten – geboren und aufgewachsen. Aber nach mehr als 20 Jahren in Bayern hat mich interessiert, was die Leute heute denken, welche Sorgen sie umtreibt.

Und warum so viele der AfD hinterherlaufen.

Vorboten auf Landtagswahl: „Habe so die Schnauze voll!“

Nach meiner Tour durch den Saale-Orla-Kreis im Osten Thüringens schrieb ich Anfang Juli 2023 den Artikel „ Bei Reise durch AfD-Hochburg wird mir klar, warum Menschen rechts wählen “.

Anschließend schickte ich die Befunde meiner Recherche unter anderem an die Bundeszentralen der regierenden Parteien in Berlin.

Ich bat die Ampel-Verantwortlichen um konkrete Vorschläge, wie sie ein weiteres Erstarken der Rechtsextremen besonders im Osten verhindern und Wählerstimmen zurückgewinnen wollen. Und was sie empfinden, wenn Leute in Thüringen über die Bundespolitik sagen:

„Ich habe so die Schnauze voll!“

Zu diesem Zeitpunkt waren es noch 14 Monate bis zu den Landtagswahlen im September 2024. Genügend Zeit also, um den sich damals abzeichnenden Trend einer immer stärker werdenden AfD zu stoppen. Das ist den etablierten Parteien, wie man heute weiß, nicht gelungen. Im Gegenteil. Die Höcke-Partei siegte mit fast 33 Prozent.

Als ich mir jetzt noch einmal die Antworten der Politik-Strategen , darunter SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert, von Mitte Juli 2023 durchlas, wurde mir klar:

Die Ampel-Koalitionäre hatten offenbar überhaupt nicht begriffen, was die Menschen im Osten von ihnen erwarteten. Sie konnten mit deren Sorgen nur wenig anfangen und hielten deren Kritik zum großen Teil für überzogen.

Stattdessen gaukelten sie den Bürgern – und möglicherweise auch sich selbst – etwas vor. Kühnert etwa bezeichnete die AfD als „Scheinriese“ und prahlte damit, dass die SPD „allein zwischen Rügen und dem Thüringer Wald mehr Mitglieder“ habe als die Rechtsaußen-Partei.

Sorgen der Bürger: In Berlin kommen sie offenbar nicht an

Im Nachhinein wirken solche Aussagen nicht nur überheblich und deplatziert. Im Grunde genommen bestärken sie viele Thüringer bis heute in ihrer Ansicht, dass man sie in Berlin für dumm verkaufen will.

Ähnliches gilt für eine Antwort der Grünen. Die Partei betonte damals gegenüber FOCUS online, man würde „kontinuierlich daran arbeiten, eine robuste Wirtschaft aufrechtzuerhalten und Unternehmen in Deutschland zu halten“. Angesichts der aktuellen Entwicklung – massenhaft Insolvenzen, Firmenabwanderungen, lahmende Konjunktur, düstere Aussichten – dürften viele Menschen solche Sätze als blanken Hohn empfinden.

Fairerweise muss man sagen, dass gerade die Grünen in Thüringen traditionell einen schweren Stand haben. SPD und FDP sind im Ansehen der Menschen stetig gesunken und zu Splitterparteien geschrumpft.

Die Sozialdemokraten, 1990 mit 22,8 Prozent noch eine echte Macht im Freistaat, kamen bei der Landtagswahl vor wenigen Wochen auf desaströse 6,1 Prozent. Grüne (3,2 Prozent) und FDP (1,1 Prozent) flogen sogar krachend aus dem Parlament.

Überraschung? Nein! Mitverantwortlich: Berlin.

Schon bei meiner Tour im Sommer 2023 hatte ich so gut wie niemanden gefunden, der mit der Politik der Ampelregierung aus SPD, Grünen und FDP auch nur ansatzweise zufrieden war. Ein Rentner schimpfte auf „die Stromer da oben“. Ein Handwerksmeister befand: „Die in Berlin sind total neben der Spur. Die regieren komplett am Volk vorbei.“

Tiefe Abneigung gegenüber den Regierenden im Bund

Ich habe gemerkt, dass viele Menschen in dem Thüringer Landstrich mit knapp 80.000 Einwohnern eines verbindet: Die tiefe Abneigung gegenüber den Regierenden im Bund. Ich notierte damals:

„Die grünen Spitzenpolitiker Robert Habeck, Annalena Baerbock, Ricarda Lang – für viele im Saale-Orla-Kreis eine Zumutung. Kanzler Olaf Scholz – ein zwielichtiger Mann, von dem sie nicht mal einen Gebrauchtwagen kaufen würden. Und Christian Lindner von der FDP? Ein aalglatter Politiker, der mit ihren Sorgen und Problemen so viel anfangen kann wie ein Veganer mit einer Thüringer Rostbratwurst.“

Viele Menschen, die ich nach ihrer Meinung fragte, redeten klar und geradeaus. Ohne Umschweife. Ohne falsche Rücksicht. Das klang oft radikal. Manche äußerten sich differenzierter und fanden Zwischentöne. Die Botschaft jedoch blieb dieselbe: Der Realitätsverlust der Ampel-Parteien sei „grenzenlos“.

Einer meiner damaligen Gesprächspartner: „Dass wir hier komplett abgehängt sind vom Rest der Welt, das merken die nicht. Das ist denen egal. Das interessiert die nicht.“

Die Regierung kümmere sich viel zu sehr „um Minderheiten und Probleme, die eigentlich keine sind. Wir haben hier ganz andere Sorgen“, sagte mir eine Frau in Schleiz.

Gemeint waren marode Schulen, zu wenige Ärzte und Lehrer, kleine Renten, Zukunftsängste, Pflegenotstand, wirtschaftlicher Niedergang, Überforderung durch die sogenannte Energiewende. Und natürlich das Thema Flüchtlinge.

Frust über Politik der Ampel: „Das treibt AfD die Wähler zu“

„Überall fehlt es an Geld, aber dort spielt Geld keine Rolle“, so damals ein 46-jähriger Bundeswehr-Reservist aus Oettersdorf. Viele Leute glaubten, die deutschen Politiker hätten mehr für Asylbewerber übrig als für die eigenen Bürger. „Und das treibt der AfD die Wähler zu.“

Der Inhaber einer freien Kfz-Werkstatt in Volkmannsdorf diktierte mir in den Block: „Wir werden geknechtet und abkassiert, aber für die Ukraine gibt die Regierung Milliarden aus. Das finde ich nicht richtig. Das ist Politik gegen das eigene Volk.“

Wer mit offenen Augen und Ohren durch Thüringen ging, dem blieb gar nichts anderes übrig als zu erkennen: Hier hatte sich enorme Unzufriedenheit angestaut. Vielfach herrschten Unsicherheit, Enttäuschung, Wut, Resignation, Angst. Und überall spürte man den Willen, es „denen da oben“ zeigen zu wollen – mit der Hinwendung zur AfD.

Nicht nur ich als FOCUS-online-Reporter habe diese Stimmungen eingefangen und als untrügliche Vorboten für künftige Wahlausgänge dargestellt. Andere Medienvertreter haben dies ebenfalls getan. Auch in Umfragen zeichnete sich seit langem ab, dass die AfD 2024 im „grünen Herzen“ Deutschlands stärkste Kraft werden würde.

Dass die etablierten Parteien diese Entwicklung ernst genug nahmen, darf bezweifelt werden. Jedenfalls deuten die Antworten gegenüber FOCUS online nicht zwingend darauf hin.

SPD-Generalsekretär Kühnert verkennt Wut an der Basis

SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert etwa wies den Vorwurf, die Vertreter der etablierten Parteien inklusive der SPD seien „abgehoben“ und hätten kein Gespür für die Sorgen der „kleinen Leute“, vehement zurück. Vielmehr stellte er seine Partei als volksnah, bürgerfreundlich und beliebt dar.

„Die SPD hat die Bundestagswahl 2021 vor allem auch wegen der starken Unterstützung in Ostdeutschland gewonnen“, jubelte Kühnert. Die Sozialdemokraten in den Parlamenten pflegten „einen engen Draht zu Betrieben und deren Beschäftigen“. Und natürlich flössen die „Erfahrungen aus diesem täglichen Austausch in unsere Politik ein“.

Falls der ehemalige Callcenter-Mitarbeiter Kevin Kühnert damals tatsächlich geglaubt haben sollte, die SPD werde noch immer als „Anwalt der Arbeiter“ wahrgenommen, hat er sich gewaltig getäuscht. Nicht die SPD, sondern die AfD holte bei den Arbeitern in Thüringen mit Abstand die meisten Stimmen.

Auch beim Thema Flüchtlinge und Migration schrammte der Generalsekretär meilenweit an dem vorbei, was die Menschen in Thüringen bewegt. FOCUS online fragte:

„Aus massiver Unzufriedenheit mit der Migrationspolitik wenden sich die Menschen der AfD zu. Was sagen Sie zu diesem Vorwurf und wie wollen Sie auf die Kritik der Bürger reagieren?“

An dieser Stelle hätte Kühnert auf die stark belasteten und überforderten Kommunen eingehen können, die massiven Probleme bei der Integration, die Zuwandererkriminalität und die Auswüchse bei der illegalen Migration. Kurzum: Er hätte die Sorgen und Ängste der Leute ernst nehmen können.

Stattdessen erging sich Kühnert in Allgemeinplätzen. So sagte er: „Wir ordnen die Zuwanderung durch verbindliche Vereinbarungen in Europa und schließen mit einzelnen Staaten Migrationsabkommen: Ausreisepflichtige gehen, Arbeitskräfte kommen.“

Die Grünen feiern sich selbst – als Retter in der Krise

Und was antworteten die Grünen?

Sie feierten sich selbst! Als Teil der Bundesregierung habe man diverse Maßnahmen zur Krisenbewältigung und Zukunftssicherung Deutschlands ergriffen. Etwa durch die „Abfederung der Auswirkungen hoher Energiepreise durch Entlastungen“, so eine Sprecherin zu FOCUS online.

Der Murks beim Heizungsgesetz? Bevormundung im Klimaschutz? Blockadehaltung in der Asylpolitik? Das Image als Verbots- und Verzichtspartei? Die oberlehrerhafte, auf die Menschen herabschauende Art vieler Grünen-Vertreter? Das verspielte Vertrauen? Zu all diesen Fragen kein Wort.

Wie sagte mir ein gestandener Handwerker im Sommer 2023? Jedes einzelne Prozent, das die Grünen im Saale-Orla-Kreis bekommen, sei ein Prozent „zu viel“.

Der Mann stand mit seiner Meinung nicht alleine da.

Bei den Landtagswahlen im September 2024 entfielen von den 24.171 gültigen Wählerstimmen gerade mal 281 auf die Grünen. 1,2 Prozent.

Noch schlimmer traf es die FDP. 243 Stimmen. 1,0 Prozent, nur knapp vor der Tierschutzpartei.

Und die von Generalsekretär Kevin Kühnert als so tolle Arbeiter- und Bürgerpartei gelobte SPD? 735 Stimmen. 3,0 Prozent.

Im Saale-Orla-Kreis kamen die drei Ampelparteien also zusammen auf sage und schreibe 5,2 Prozent.

Brandenburgs Ministerpräsident (SPD) hat es begriffen

Mich hat das Ergebnis nicht verwundert. Warum sollte es auch? Ich habe den Menschen in Ostthüringen einfach zugehört, sie ausreden lassen. Und aufgeschrieben, was ihnen auf der Seele liegt.

Aber die angeblich so klugen Köpfe in Berlin waren nicht willens oder nicht in der Lage, die ihnen übermittelte Kritik anzunehmen. Statt die Menschen abzuholen mit ihren Problemen, ließ man sie allein. Die Quittung folgte. Im Saale-Orla-Kreis. In Thüringen. In Sachsen.

Nächsten Sonntag wird in Brandenburg ein neuer Landtag gewählt. In aktuellen Umfragen liegt eine Partei mit 27 Prozent an der Spitze.

Die AfD.

Immerhin folgt dicht dahinter die SPD, angeführt von Ministerpräsident und Spitzenkandidat Dietmar Woidke. Ein Mann, der für Stabilität steht, der als bodenständig, vernünftig und pragmatisch gilt, ein Politiker, dem viele Menschen vertrauen.

Woidke, 1,96 Meter groß und seit elf Jahren im Amt, ist einer der wenigen Politiker aus dem Lager der Ampel-Parteien, der eine realistische Chance hat, den Siegeszug der AfD im Osten zu stoppen. Auch deshalb, weil er frühzeitig auf Distanz zur Ampel ging.

So bezeichnete Woidke den Dauerstreit der Koalitionäre „demokratiezersetzend“ und das Heizungsgesetz ein „kommunikatives Desaster“. Die Unzufriedenheit der Menschen mit der Scholz-Regierung nannte der Brandenburger „einen Hurricane gegen uns“.