Streit um Strategie: Europas Staaten zwischen Mund-Nase-Schutz und Lockdown

Die zweite Infektionswelle hart bekämpfen oder so sanft wie möglich? Europas Staaten streiten über die beste Strategie. Die Nervosität steigt.

Vor allem in der Metropolregion Aix-Marseille sind die Betreiber von Bars und Restaurants, aber auch die Bürgermeister empört darüber, dass alle Lokale geschlossen werden müssen. Foto: dpa
Vor allem in der Metropolregion Aix-Marseille sind die Betreiber von Bars und Restaurants, aber auch die Bürgermeister empört darüber, dass alle Lokale geschlossen werden müssen. Foto: dpa

An kaum einem Ort in Europa gibt es derzeit so viele Corona-Neuinfektionen wie in Madrid. In den vergangenen sieben Tagen kamen 307 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner hinzu. In ganz Spanien waren es 124 Fälle. 41 Prozent aller Betten auf den Intensivstationen in Madrid sind von Covid-19-Patienten belegt.

Just hier, in Spaniens politischem und wirtschaftlichem Zentrum, zeigt sich, wie heftig derzeit über den richtigen Weg zwischen Eindämmung der Pandemie und Freiraum gestritten wird. Gesundheitspolitik ist Sache der autonomen Regionen Spaniens. Doch die dramatische Lage hat spanischen Medien zufolge dazu geführt, dass die spanische Regierung Pläne für eine Intervention durchgespielt hat, falls die Madrider Regionalregierungschefin Isabel Díaz Ayuso nicht entschlossener gegen die Seuche vorgeht.

Díaz Ayuso hatte vor zehn Tagen entschieden, 37 besonders betroffene Gebiete in der Stadt abzuriegeln: Bewohner dürfen ihr Wohngebiet nur noch verlassen, um arbeiten zu gehen, die Kinder zur Schule zu bringen, oder für andere begründete Ausnahmen.

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Um 22 Uhr schließen alle Bars und Restaurants. Seit diesem Montag sind die Restriktionen auf 45 Gebiete und eine Million der 6,6 Millionen Einwohner im Großraum Madrid ausgeweitet. Damit sei das Notwendige getan, der Wirtschaftsmotor Madrid dürfe aber auch nicht angehalten werden, argumentierte die konservative Politikerin. „Wir wählen eine Zwischenlösung, was viel komplizierter ist.“

Der sozialistische spanische Gesundheitsminister Salvador Illa warnt dagegen: „Die Pandemie in Madrid ist nicht unter Kontrolle, und wir sind bereits spät dran. (…) Je länger wir warten, desto härter werden die Maßnahmen sein, die wir ergreifen.“ Er fordert, alle Gebiete mit über 14 Tage gerechnet mehr als 500 Fällen pro 100.000 Einwohner abzuriegeln. Betroffen wären dann 85 Prozent aller Einwohner der Region.

John de Zulueta, Chef der spanischen Unternehmervereinigung Círculo de Empresas, will Ayusos Plan eine Chance zu geben. „Wir sollten zumindest zwei, drei Wochen abwarten, ob wir die Infektionen mit chirurgischen Maßnahmen bremsen können“, sagt er dem Handelsblatt. Wenn das nicht funktioniere, müsse man Illas umfangreiche Maßnahmen umsetzen. „Aber die wären dramatisch für die Wirtschaft, die dann noch mehr leiden würde als ohnehin schon.“

Ganz Europa ist angesichts der wieder steigenden Infektionszahlen auf dem Kontinent auf der Suche nach der besten Zwischenstufe, auf der die Covid-Übertragungen reduziert werden, aber ein möglichst hohes Maß an sozialem und wirtschaftlichem Leben möglich ist.

Dabei gehen die Ansichten und Strategien innerhalb der einzelnen Länder auseinander, aber auch die der Staaten im Vergleich miteinander.

Niederlande und Schweden gehen unterschiedliche Wege

In den Niederlanden ist die Zahl der Neuinfektionen mit zuletzt mehr als 2700 am Tag so hoch gestiegen, dass von Dienstagabend an für drei Wochen alle Sportveranstaltungen ohne Publikum stattfinden müssen. Cafés und Restaurants müssen um 22 Uhr schließen.

Außerdem dürfen nur noch 30 Menschen zugleich in einem Lokal sein, im Freien 40. Mund-Nasen-Schutz wird für Geschäfte empfohlen, ist aber weiter keine Pflicht. Zu Hause soll man nur noch drei Gäste empfangen. Zudem sollen alle wieder möglichst von zu Hause aus arbeiten.

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Sinke die Zahl der Infektionen nicht, seien „härtere Maßnahmen“ nötig, sagte Gesundheitsminister ‧Hugo de Jonge. Dies könne die Stilllegung des gesamten Gastronomie-, Sport- und Kultursektors sein. Es ‧gehe dann wieder in Richtung Lockdown.

Genau in die andere Richtung geht wieder einmal Schweden: Die Regierung in Stockholm beschloss am Dienstag trotz zuletzt wieder steigender Neuinfektionen, bestimmte Veranstaltungen von kommender Woche an wieder mit mehr Publikum zuzulassen. Waren bislang Veranstaltungen mit maximal 50 Personen zugelassen, können ab Mitte Oktober Kinos, Konzerte, Theater und Sportveranstaltungen über Ausnahmeregelungen von bis zu 500 Menschen besucht werden. Bedingung ist, dass alle Besucher Sitzplätze haben und ein Mindestabstand gewahrt werden kann.

Es waren wirtschaftliche Gründe, die die Regierung zu dieser Lockerung bewogen haben. „Wir wissen, dass die Zukunft vieler Kultur- und Sportevents von diesem Beschluss abhängig ist“, sagte Kulturministerin Amanda Lind. Vor allem Theater, Eventveranstalter und Sportvereine haben immer wieder vor einer drohenden Insolvenz gewarnt.

Stark betroffen von der zweiten Infektionswelle ist auch Frankreich. Das Gesundheitsministerium warnt vor einer „exponentiellen Zunahme der Zahl der Kranken, die reanimiert werden müssen“. Die Zahl der Ansteckungen werde vermutlich unterschätzt, weil die Testkapazitäten überlastet sind. Zudem kommt die Krankenversicherung bei der Nachverfolgung von Infektionsketten nicht hinterher.

In Frankreich wächst der Widerstand in den Regionen

Auch in Frankreich wächst in einigen Regionen der Widerstand gegen die verschärften Anti-Covid-Maßnahmen der Regierung. Vor allem in der Metropolregion Aix-Marseille sind die Betreiber von Bars und Restaurants, aber auch die Bürgermeister empört darüber, dass alle Lokale geschlossen werden müssen. „Nichts rechtfertigt diesen Schritt, das ist eine kollektive Bestrafung“, empört sich die grün-linke Bürgermeisterin von Marseille, Michèle Rubirola.

Gesundheitsminister Olivier Véran reiste in Frankreichs zweitgrößte Stadt, um die Fronde zu beruhigen, und verwies auf die hohe Zahl von Ansteckungen und Erkrankungen. Die Krankenhäuser in der Hafenstadt sind weitgehend ausgelastet. Doch der Aufstand hält an. Aus Sorge über einen möglichen politischen Ansteckungseffekt hat Premier Jean Castex am Dienstag die Vertreter des Gastgewerbes empfangen, um ihnen die Vorgehensweise der Regierung zu erläutern.

In vielen Großstädten gibt es behördlich angeordnete Teil- oder Vollschließungen. In Paris müssen alle Bars um 22 Uhr zusperren – Restaurants dürfen länger geöffnet bleiben.

Der Unternehmerverband Medef oder große Unternehmen nehmen nicht Stellung zu der Auseinandersetzung. Unternehmen und Politik wollen einen erneuten Lockdown vermeiden, dennoch drohte Castex Ende vergangener Woche damit – sollte die Lage sich weiter verschlechtern und die Belastung des Gesundheitssystems zunehmen.

Johnsons Schlingerkurs in Großbritannien sorgt für Kritik

In Großbritannien wächst der Unmut über den erratischen Coronakurs der Regierung. Im Sommer hatte Premier Boris Johnson die Briten zur Rückkehr in die Büros und Geschäfte aufgerufen und mit einer Rabattaktion die Restaurants bis zum Bersten gefüllt. Entsprechend erwarten Ökonomen, dass die Wirtschaft im dritten Quartal relativ stark gewachsen ist.

Normalerweise stapeln sich die Gäste. Doch seitdem die Coronaregeln verschärft wurden, nutzen weit weniger Londoner die UBahn. Foto: dpa
Normalerweise stapeln sich die Gäste. Doch seitdem die Coronaregeln verschärft wurden, nutzen weit weniger Londoner die UBahn. Foto: dpa

Angesichts der steigenden Infektionszahlen machte der Premier vergangene Woche jedoch eine Kehrtwende. Nun lautet die Ansage, weitere sechs Monate im Homeoffice zu arbeiten. Für die Gastronomie gilt eine Sperrstunde um 22 Uhr. Auch dürfen sich nur noch maximal sechs Personen unterschiedlicher Haushalte treffen. Viele Familienfeiern müssen daher ausfallen. Im Norden Englands, wo die wöchentlichen Infektionsraten bei mehr als 100 pro 100.000 Einwohner liegen, hat die Regierung mehrere lokale Lockdowns verhängt.

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Die vielen Kehrtwenden haben dazu geführt, dass die Bereitschaft der Bevölkerung sinkt, die Einschränkungen noch mitzutragen. In Johnsons konservativer Fraktion wird bereits gefordert, dass die Regierung künftig nicht mehr allein über Corona-Maßnahmen entscheiden soll, sondern das Parlament über jede Verschärfung abstimmen muss. Die Regierung scheint den Rebellen entgegenkommen zu wollen.

Auch in der Wirtschaft werden Zweifel an Johnson laut. Pub-Besitzer argumentieren, dass die Sperrstunde um 22 Uhr dazu führe, dass die Massen alle gleichzeitig in die Supermärkte strömten, um sich dort einzudecken. Auch die Aussicht auf weitere sechs Monate Homeoffice ruft Verärgerung hervor. Einschränkungen für sechs Monate anzukündigen sei „kriminell“, sagte Julian Metcalfe, Gründer der Fast-Food-Ketten Pret-a-Manger und Itsu, die von Büroangestellten leben.

Im Video: Tausende Flaggen für Corona-Opfer in Madrid