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Stresstest nach den Sommerferien: Wie die Schulen zum Regelbetrieb zurückkehren

Unterricht trotz Corona: Nicht nur Deutschland sucht nach dem richtigen Weg in der Pandemie. Die Erfahrungen anderer Länder zeigen Chancen und Risiken.

Ob der Mund-Nase-Schutz im Klassenraum Pflicht ist, ist von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. Foto: dpa
Ob der Mund-Nase-Schutz im Klassenraum Pflicht ist, ist von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. Foto: dpa

Deutschlands Schulen stehen vor einer großen Herausforderung: Während das Robert Koch-Institut (RKI) steigende Neuinfektionen meldet und das Land über eine mögliche zweite Welle der Corona-Pandemie diskutiert, kehren Schüler und Lehrer zum weitgehend normalen Unterricht zurück.

Die Lehrergewerkschaft GEW sieht im Regelbetrieb an den Schulen „ein hohes Risiko“ – auch weil die Gesundheitsämter im Vorfeld nicht alle Schulen begutachtet und deren Hygienepläne geprüft hätten. Die Elternschaft ist gespalten: Die einen haben Zweifel, dass ein sicherer Schulunterricht in der Pandemie überhaupt möglich ist. Andere Mütter und Väter sind verärgert, dass ihr Nachwuchs auf Bildung verzichten musste, während Geschäfte und Kneipen wieder öffnen durften. Für sie ist die komplette Schulöffnung überfällig.

Schon am Montag startete Mecklenburg-Vorpommern als erstes Bundesland ins neue Schuljahr, an diesem Donnerstag folgt Hamburg. Nächste Woche kehren dann Schüler und Lehrer unter anderem in Berlin und Nordrhein-Westfalen in die Schulen zurück. Noch etwas länger dauert es in Baden-Württemberg, wo das Schuljahr erst am 14. September beginnt.

Für den Lernbetrieb gelten Pandemieregeln: Pausenhöfe werden unterteilt, und der Unterricht soll in möglichst festen Gruppen ablaufen, damit sich die Schüler möglichst wenig durchmischen. In einigen Ländern wie Hamburg und Bayern muss ein Mund-Nasen-Schutz getragen werden.

Begleitet wird die Rückkehr zum Präsenzunterricht von einer Debatte über die Rolle von Kindern und Jugendlichen bei der Ausbreitung des Virus. In wissenschaftlichen Studien finden sowohl Befürworter als auch Skeptiker der Schulöffnungen Argumente für ihre Positionen.

Untersuchungen an sächsischen Schulen im Mai und Juni legen ein geringes Infektionsrisiko nahe. Und laut einer Studie aus Baden-Württemberg sind Kinder nicht so häufig infiziert wie ihre Eltern. Eine Studie aus Südkorea kam zu dem Ergebnis: Während kleinere Kinder nur selten ansteckend sind, können Teenager ähnlich infektiös wie Erwachsene sein.

UN-Generalsekretär: Rückkehr zum Unterricht muss oberste Priorität haben

Dagegen schlussfolgerten US-Forscher, die einen Ausbruch in einem Ferienlager untersuchten, dass sich Kinder jeden Alters infizieren und eine bedeutende Rolle bei der Übertragung des Coronavirus spielen können.

Grünen kritisieren Versäumnisse der Bundesregierung bei Corona-Schutz an Schulen

Etwa 160 Länder haben nach Angaben der Vereinten Nationen in der Pandemie die Schulen zeitweise geschlossen, betroffen sind eine Milliarde Schüler. UN-Generalsekretär Antonio Guterres fordert: Die Rückkehr zum Unterricht müsse oberste Priorität haben, sonst drohe „eine Katastrophe für eine ganze Generation“. Es bestehe die Gefahr, dass „unermessliches menschliches Potenzial verschwendet, jahrzehntelanger Fortschritt untergraben und tief verwurzelte Ungleichheiten verschärft werden könnten“.

Für Deutschland zeigt eine Umfrage des Ifo-Instituts, dass sich die Zeit, in der sich Kinder und Jugendliche mit Schule und Lernen beschäftigten, während der Schließungen halbiert hat. Statt der normalen täglichen Lernzeit von durchschnittlich 7,4 Stunden betrug diese auf dem Höhepunkt der Krise demnach nur noch 3,6 Stunden. Aus der bundesweiten Befragung von Eltern geht hervor, dass gerade bei Leistungsschwächeren der Heimunterricht zu kurz gekommen sei.

In vielen Staaten stehen flächendeckende Schulöffnungen an oder sind bereits erfolgt. Erfahrungen, aus denen Deutschland lernen kann. Das Beispiel Dänemark zeigt etwa, wie wichtig strenge Verhaltensregeln in Klassenzimmern sind. Das Vorgehen Israels ist dagegen eine Warnung, was passieren kann, wenn Schulen ohne ausreichende Schutzmaßnahmen offen sind.

So ist die Lage in anderen Ländern:

Dänemark: Nordisches Vorbild

Dänemark war eines der ersten Länder, das im März einen Lockdown beschloss. Doch schon nach vier Wochen hob Ministerpräsidentin Mette Frederiksen die Schließung von Kindergärten und Schulen bis zur fünften Klasse wieder auf. Bis zu den Sommerferien gingen in Dänemark wieder alle Schüler zur Schule. Der von mehreren dänischen Virologen befürchtete Neuausbruch blieb aus. „Wir können keine negativen Effekte der Wiederöffnung von Schulen sehen“, erklärte die Behörde für Infektionskrankheiten SSI.

Von Montag an beginnt das neue Schuljahr so, wie das alte aufgehört hat: keine Maskenpflicht, aber strenge Verhaltensregeln. So müssen die Tische in den Klassen zwei Meter auseinanderstehen. Auf dem Schulhof sind nur Gruppen von maximal fünf Schülern erlaubt. Zudem müssen sich die Schüler regelmäßig unter Aufsicht die Hände waschen. Zweimal am Tag werden Türgriffe, Lichtschalter, Tische und Toiletten desinfiziert. Wenn es geht, wird im Freien unterrichtet. Die älteren Schüler werden in zwei Gruppen unterrichtet: eine am Vormittag, die andere am Nachmittag. Helmut Steuer

Israel: Mahnendes Beispiel

Israel meisterte die erste Corona-Welle mit Erfolg. Dann lieferte das Land ein Beispiel dafür, welche Fehler bei der Öffnung zu vermeiden sind. Nachdem Ende Mai die Fallzahlen stark gefallen waren, wollte die Regierung die Wirtschaft wieder ankurbeln. Dazu gehörte auch die Rückkehr der Schüler in die Klassenzimmer. Doch es dauerte nicht lange, bis die ersten Schüler positiv getestet wurden. Hunderte von Schulen wurden wieder geschlossen, Zehntausende Schüler und Lehrer in die Quarantäne geschickt, wo sie Familienmitglieder ansteckten.

Auch wenn die Epidemie unter Kontrolle scheint, müsse man bei der Öffnung der Schulen unbedingt vorsichtig sein, fassen Epidemiologen Israels Erfahrung zusammen. Zudem dürfe man nicht alle Schulen auf einen Schlag öffnen, sondern müsse schrittweise vorgehen. Anvisiert wird nun eine Reduktion der Schülerzahlen pro Klassenzimmer von heute 38 auf höchstens 18. Beabsichtigt ist auch, ältere Schüler an einigen Tagen pro Woche Fernunterricht zu erteilen, während eine andere Gruppe in die Schule geht. Pierre Heumann

Schweden: Land ohne Lockdown

Schweden hat in der Pandemie einen Sonderweg eingeschlagen: Das skandinavische Land verzichtete auf signifikante Einschränkungen des Alltags. Die Todeszahlen sind im internationalen Vergleich aber sehr hoch. Der Sonderweg betrifft auch die Schulen, die bis zur neunten Klasse nie geschlossen wurden. Für die älteren Schüler und in der Erwachsenenbildung wurde Fernunterricht eingeführt. Wenn am 10. August das neue Schuljahr beginnt, müssen wieder alle Altersgruppen die Schulbank drücken.

Die Gesundheitsbehörde hat allgemeine Ratschläge wie regelmäßiges Händewaschen und die täglich mehrfache Desinfektion von Kontaktflächen formuliert. Außerdem gibt es Empfehlungen, dass beispielsweise nicht alle Schüler gleichzeitig in die Pause gehen sollten. Die genaue Umsetzung obliegt den einzelnen Schulen. Von Beginn an haben die älteren Jahrgänge in Schweden Fernunterricht erhalten. Schüler, die keinen eigenen Computer oder kein Tablet besitzen, bekamen ein Gerät von der Schule, um über Apps wie Zoom oder andere am Unterricht teilnehmen zu können. Helmut Steuer

USA: Kulturkampf ums Klassenzimmer

Die Vereinigten Staaten fallen in der Pandemie durch Missmanagement auf. Anders als in Europa ist es den Amerikanern nie gelungen, das Virus unter Kontrolle zu bekommen. Daher ist mit den Schulöffnungen ein besonders hohes Risiko verbunden. In vielen Städten demonstrieren Lehrer, Schüler und Eltern gegen eine vorschnelle Öffnung. Doch US-Präsident Donald Trump will davon nichts wissen. Schon seit Wochen fordert er, zum geregelten Schulbetrieb zurückzukehren.

In einigen Bundesstaaten hat das Schuljahr schon begonnen – mit abschreckenden Beispielen. In Indiana schickten Eltern ihr Kind in den Unterricht, obwohl ein Covid-Test noch ausstand. Das Kind hatte das Virus, was nun für viele Schüler und Lehrer Quarantäne bedeutet.

Andere Schulen haben sich entschieden, doch nicht mit dem regulären Betrieb zu beginnen. Chicago kündigte am Mittwoch an, nur online zu unterrichten. New York ist damit die einzige Großstadt des Landes, die weiter plant, die Kinder zumindest zum Teil wieder in einem geregelten Schulbetrieb zu unterrichten. Eine finale Entscheidung soll in den kommenden Tagen fallen. In einigen Schulbezirken wird eine Mischung aus Präsenz- und Heimunterricht erwogen. Zuständig sind die lokalen Behörden. Deren Entscheidungen haben weitreichende Folgen. Gerade in Städten ist die Skepsis gegenüber Schulöffnungen groß, was Familien dazu bewegen könnte, aufs Land zu ziehen. In New York macht sich die Stadtflucht bereits am Immobilienmarkt bemerkbar. Astrid Dörner

Großbritannien: Schnelltests für Schulen

In Großbritannien sollen alle Schulen nach den Sommerferien von September an wieder öffnen. Premierminister Boris Johnson bezeichnet die Rückkehr von Kindern und Jugendlichen in die Bildungseinrichtungen als „nationale Priorität“. Allerdings bestehen Zweifel, dass die Behörden rechtzeitig die nötigen Maßnahmen zum Infektionsschutz umsetzen können.

Auch in Großbritannien ist die Angst vor einer zweiten Welle groß. Gesundheitsminister Matt Hancock kündigte Schnelltests für die Schulen an. Sie sollen Ergebnisse in 90 Minuten liefern und so die Kontaktverfolgung erleichtern. Das Problem: Es gibt nicht genug für das ganze Land. Sie sollen daher an wechselnde Hotspots geliefert werden.

Das Bildungsministerium hat alle Schulen angewiesen, im Fall einer zweiten Welle Onlineunterricht zu ermöglichen. Inspektoren der Schulaufsichtsbehörde sollen überprüfen, ob die Schulen vorbereitet sind und jeder Schüler einen Laptop hat. Die Regierung überlegt auch, andere Aktivitäten wieder einzuschränken, um Unterricht erneut zu ermöglichen. Man müsse vielleicht die Pubs schließen, um die Schulen zu öffnen, sagte der Epidemiologe Graham Medley. Carsten Volkery

Frankreich: Kontakt halten

Das neue Schuljahr beginnt in Frankreich am 1. September. Schon im Mai wurden die Vorschule, die Grundschule und das Collège schrittweise geöffnet, allerdings in Kleingruppen. Die Gymnasien blieben zunächst geschlossen. Nach Regierungsangaben konnten bis Ende Juni mehr als 80 Prozent der Grundschüler und rund 75 Prozent der Mittelstufenschüler am Collège den Unterricht wieder aufnehmen.

Nach den Ferien ist in allen Schulformen die Rückkehr in kleinen Gruppen vorgesehen, um die Abstandsregeln einhalten zu können. Sollte sich das Coronavirus in dem Land wieder stärker ausbreiten, sollen alle Schüler zwar Zugang zu Kursen in der Schule haben – allerdings mit reduzierter Stundenzahl.

Schulen in besonders vom Virus betroffenen Regionen können geschlossen werden. Wenn Präsenzunterricht nicht möglich ist, muss jeder Schüler einmal pro Woche kontaktiert werden, damit nachvollzogen werden kann, wie wie das Lernen vorangeht und welche Schwierigkeiten es gibt. Während des Lockdowns hatten Frankreichs Schulen Kurse im Internet angeboten, was unterschiedlich gut funktionierte. Tanja Kuchenbecker

Türkei: Digitaler Unterricht

In der Türkei hat die Regierung die Schulen Anfang März geschlossen, doch der Unterricht konnte fortgeführt werden. Am 23. März stellte Bildungsminister Ziya Selcuk den kompletten Unterricht auf ein Online-Netzwerk um. Das funktionierte, weil die Gesellschaft digital-affin ist. Über das Portal Eba können Schüler schon seit Jahren Übungsaufgaben abrufen und Nachhilfe beantragen. Das System ist erprobt, weil es vor der Coronakrise regelmäßig von Schülern genutzt wurde. Jetzt hat es den kompletten Schulunterricht ersetzt.

Wer nach dem Digitalunterricht Übungsaufgaben machen will oder Nachhilfe benötigt, nutzt dasselbe Portal wie schon in den Jahren zuvor. Allerdings mahnen Lehrer, dass Onlineunterricht echte Schulstunden nicht gleichwertig ersetzen könne. Während der derzeitigen Sommerferien prüft das Bildungsministerium in Ankara daher mehrere Szenarien: von einer Komplettöffnung über regionale Teilöffnungen hin zu komplettem Digitalunterricht, wie er seit März abgehalten wird. Für die Komplettöffnung müssten die Infektionszahlen in dem Land aber noch weiter sinken. Ozan Demircan

Kanada: Unterschiede in den Provinzen

In Kanada, wo das Infektionsgeschehen ähnlich verläuft wie in Deutschland, sollen die Schulen Anfang September wieder öffnen. Sie waren Mitte März geschlossen worden. Eine Ausnahme bildete die Provinz Québec, den Schulbetrieb auf dem Land schon früher wieder aufnahm. Es war eine Art Testlauf. Nun soll der Betrieb wieder flächendeckend losgehen, regionale Unterschiede bleiben aber, denn Kanada sind Schulen Angelegenheit der Provinzen.

Manche Provinzen führen wieder Vollzeitunterricht ein, andere bevorzugen Teilzeitschulbesuch und zeitlich gestaffelte Schülergruppen. Einige Provinzen führen Maskenpflicht für alle Schüler aller Altersgruppen ein, andere erst ab Klasse 4, oder sie gestatten den Schülern, den Mund-Nasenschutz abzulegen, sobald sie an ihrem Platz sitzen.

Die Debatte über Gesundheitsrisiken wird intensiv geführt, aber generell überwiegt die Ansicht, dass die Risiken insbesondere für jüngere Kinder im Elementarbereich gering sind und Nachteile, nicht zur Schule gehen, lernen und soziale Kontakte pflegen zu können, wesentlich schwerer wiegen. Angesichts der Größe des Landes stößt in den abseits gelegenen Gemeinden, die nur unzureichend Internetanschluss haben, Online-Unterricht schnell an seine Grenzen. Gerd Braune

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