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Türkei sucht Putsch-Drahtzieher in Deutschland

Die türkische Regierung vermutet einen der Top-Verdächtigen des Putschversuchs in Deutschland. Jetzt verlangt Ankara seine Auslieferung. Das könnte den Streit mit der Türkei vor der Bundestagswahl erneut anheizen.

In der Nacht auf den 16. Juli 2016 war Adil Öksüz nahe einer Militärkaserne in einem Vorort der türkischen Hauptstadt Ankara unterwegs. Von dem Luftwaffenstützpunkt Akinci starteten in derselben Nacht Kampfjets, um das Parlament, den Präsidentenpalast und weitere Regierungsgebäude anzugreifen – es war die Nacht des jüngsten Putsches in der Türkei. Der Umsturzversuch scheiterte letztlich an mangelhafter Organisation und dem Widerstand der Bevölkerung. Mehr als 250 Menschen starben.

Öksüz wurde in der Nacht von der Gendarmerie festgenommen, als er sich schnellen Schrittes durch einen Wald von dem Luftwaffenstützpunkt – der Kommandozentrale der Putschisten – entfernte. Beim Verhör sagte der Theologe, er sei auf der Suche nach Grundstücken für einen Immobilienneubau gewesen. Am nächsten Tag wurde er mangels Beweisen freigelassen und ist seitdem nicht auffindbar.

Seit diesem Tag sucht die türkische Staatsanwaltschaft nach Öksüz, den die Ermittler als mutmaßlichen Drahtzieher hinter dem Militäraufstand sehen. Offenbar vermuten ihn die türkischen Behörden in Deutschland: Das Außenministerium in Ankara hat eine offizielle diplomatische Note an die Bundesregierung geschickt. Darin bittet Ankara um Auskunft, ob Öksüz in Baden-Württemberg Asyl beantragt hat – und, falls das zutrifft, um seine Auslieferung.

Außenminister Cavusoglu erklärte in Ankara, man habe eine entsprechende diplomatische Note an die Bundesregierung gesandt. „Bei dem Mann handelt es sich um einen Anführer der Luftwaffen-Soldaten, die für die Bombardierung des türkischen Parlaments verantwortlich sind“, sagte Cavusoglu am Mittwoch. Nach Angaben türkischer Medien besitzt der Mann in Deutschland eine vorläufige Aufenthaltsgenehmigung. Das könnte den schwelenden Streit zwischen beiden Ländern kurz vor der Bundestagswahl erneut anfachen.

Die Türkei geht mit aller Härte gegen mutmaßlichen Putschisten vor. In mehreren Großprozessen müssen sich aktuell mehrere Hundert Verdächtige verantworten. Für die Verhandlungen wurden eigens gesicherte Gebäude gebaut. In vielen türkischen Medien wurden zahlreiche Verdächtige bereits vor einem Urteil als Rädelsführer des Umsturzversuchs gebrandmarkt. Darüber hinaus wurden mehr als 150.000 Beamte aus dem Staatsdienst entlassen. Etwa genauso viele müssen sich vor Gericht verantworten. Mehr als 100 Journalisten sitzen im Gefängnis.

Die Anschuldigungen gegen Öksüz, der zur Gülen-Bewegung gehören soll, wiegen schwer. Die Ermittlungsakte gegen Öksüz ist dicker als ein Telefonbuch. Er soll als Zivilist das Gülen-Netzwerk innerhalb der türkischen Luftwaffe befehligt haben. Sein Spitzname lautet „Imam der Luftwaffe“. Der Mann, der eigentlich als Theologe arbeitet, ist auf Überwachungsvideos der Akinci-Kaserne während der Putschnacht zu sehen. Er soll mehrfach andere Kollaborateure in der Putschnacht kontaktiert haben, wie Telefonmitschnitte zeigen. Wenige Tage vor dem Putschversuch sollen er und ein weiterer Angeklagter außerdem in die USA gereist und zwei Tage vor dem Putschversuch zurückgekehrt sein. Mutmaßliches Reiseziel laut Anklage: der US-Bundesstaat Pennsylvania. Dort lebt Fethullah Gülen.

Gülen hat in den 1970er-Jahren begonnen, als Prediger durch die Türkei zu reisen. Schnell wuchs seine äußerst fromme Gemeinde an, bis er schließlich im Fernsehen auftrat und über die Grenzen hinaus bekannt wurde. In vielen Ländern fasste seine Bewegung Fuß, ebenso in Deutschland. Hierzulande ist Gülen für Nachhilfezentren und einen relativ moderaten interreligiösen Dialog bekannt geworden. Dass Gülen eine strikte Hierarchie sowie Geldspenden verlangte, in seinen Schriften die Scharia, also das islamische Strafrecht, heiligte und mehrfach offen zur Infiltration des türkischen Staats aufrief, wussten seine Anhänger in Deutschland zu verschleiern.

Denn auch im türkischen Staatsapparat wuchs die Zahl seiner Anhänger. Vor rund einem Jahrzehnt ging der damalige türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan schließlich einen Deal mit Gülen ein, um das republikanisch und säkular dominierte Staatswesen zu säubern. Etliche Erdogan-Gegner in der Justiz und im Militär wurden teils zu langen Haftstrafen verurteilt. Ihre Posten wurden durch Gülen-Mitglieder ersetzt. Als die Arbeit erledigt war, entzündete sich zwischen Erdogan und Gülen ein Streit um die Macht im Staat.

Gülen-Mitglieder im Geheimdienst initiierten mehrere Skandale um die damalige Regierung. Seit 2014 gilt die Gülen-Bewegung daher in der Türkei als Terrororganisation. Schon damals begannen die ersten Säuberungen in Ministerien, Behörden und auch in der Regierungspartei AKP. Mehrere Mitarbeiter und Berater von Staatschef Erdogan wurden entlassen, auch im Parlament verloren einige AKP-Fraktionsmitglieder unter dem Vorwurf, Mitglied der Gülen-Bewegung zu sein, ihr Mandat.


„Imam der Luftwaffe“

Für viele Türken besteht kein Zweifel daran, dass Gülen hinter dem Umsturzversuch vom 15. Juli steckt. Auch die Tatsache, dass Zivilisten wie Adil Öksüz teils hohe Offiziere im Militär befehligen konnten, passt in den Augen vieler zur hierarchischen Struktur der Gülen-Bewegung, in der man nicht durch berufliche Lebensleistung aufstieg, sondern durch Gefälligkeit gegenüber Gülen. Und dadurch, dass man sein eigenes Leben komplett der Gülen-Bewegung, auch „Hizmet“ genannt, opfert.

Bereits wenige Tage nach dem Putschversuch erklärte Gülen in einem Interview mit dem französischen Fernsehsender France 24, Öksüz sei tatsächlich früher Mitglied eines Studienzirkels in seiner Bewegung gewesen. Dass er nach der Putschnacht wieder entlassen werden konnte, ist nach Angaben der türkischen Staatsanwaltschaft 28 Beamten zu verdanken, die die Freilassung Öksüz‘ herbeigeführt haben sollen. Darunter sollen 13 Soldaten, 14 Polizisten und ein Berater des Ministerpräsidenten sein. Seit dem 19. Juli 2016 ist Öksüz zur Fahndung ausgeschrieben. Für Hinweise zu seiner Ergreifung bieten türkische Behörden vier Millionen Lira, fast eine Million Euro.

Seit Monaten kursieren in türkischen Medien Berichte, wonach der „Imam der Luftwaffe“ sich in Deutschland aufhalten soll. Mehrere Türken wollen ihn zuletzt in Frankfurt und Ulm gesehen haben. Eine Tageszeitung berichtete in der vergangenen Woche, Öksüz habe in Baden-Württemberg Asyl beantragt.

Der staatlichen türkischen Nachrichtenagentur Anadolu zufolge hat das Auswärtige Amt in Berlin den Eingang der Note aus Ankara bestätigt. Den deutschen Behörden liegen offenbar derzeit keine Informationen darüber vor, dass sich Öksüz tatsächlich in Deutschland aufhält.

Die Türkei und Deutschland liegen bereits seit mehr als anderthalb Jahren im Clinch. Der Streit über das Gedicht des Komikers Jan Böhmermann, die nach türkischer Lesart mangelnde Solidarität Deutschlands nach dem Putschversuch, das Auftrittsverbot für Erdogan in Deutschland, das Besuchsverbot deutscher Abgeordneter bei Bundeswehrsoldaten in der Türkei, Nazivergleiche des türkischen Präsidenten und nicht zuletzt die Festnahme deutscher Staatsbürger in der Türkei – die Liste der Streitereien ist sehr lang.

Zuletzt hatte Bundesaußenminister Sigmar Gabriel nach der Festnahme eines deutschen Menschenrechtlers in der Türkei die Zügel gestrafft. Der SPD-Minister verschärfte die Hinweise für Reisen in das Land und warnte vor Investitionen. Die CDU hielt sich dabei auffallend zurück. Danach war es ruhiger geworden. Die nun doch erteilte Besuchserlaubnis für deutsche Parlamentarier, Bundeswehrsoldaten auf dem türkischen Nato-Stützpunkt in Konya zu besuchen, werteten viele als Zeichen der Entspannung zwischen beiden Ländern. Die diplomatische Note Ankaras könnte nun jedoch für neuen Streit sorgen.

KONTEXT

Die Türkei in Aufruhr - Wichtige Ereignisse seit dem Putschversuch

Jahrestag des Putschversuchs in der Türkei

Seit dem Putschversuch vor einem Jahr ist die Türkei nicht zur Ruhe gekommen. Eine Auswahl wichtiger Ereignisse:

(Quelle: dpa)

15. Juli 2016

Teile des Militärs beginnen einen Putsch, der am Tag darauf niedergeschlagen wird. Präsident Recep Tayyip Erdogan macht den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen verantwortlich.

20. Juli 2016

Erdogan ruft den Ausnahmezustand aus, der am Tag darauf in Kraft tritt. Mehr als 100 000 Staatsbedienstete werden in den Folgemonaten entlassen, mehr als 50 000 Menschen werden inhaftiert.

9. August 2016

Die Türkei und Russland legen ihre Krise wegen des Abschusses eines russischen Kampfflugzeugs bei. Elf Tage später billigt das türkische Parlament auch die Aussöhnung mit Israel.

24. August 2016

Türkische Truppen marschieren in Nordsyrien ein. Sie beginnen eine verlustreiche Offensive gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), bekämpfen aber auch kurdische Milizen.

4. November 2016

Ein Gericht verhängt Untersuchungshaft gegen Selahattin Demirtas, den Chef der zweitgrößten Oppositionspartei HDP. Neben Demirtas werden mehrere weitere HDP-Abgeordnete inhaftiert.

10. Dezember 2016

Bei einem Anschlag in Istanbul sterben 45 Menschen, die meisten davon Polizisten. Zu der Tat bekennt sich die TAK, eine Splittergruppe der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK.

19. Dezember 2016

Der russische Botschafter Andrej Karlow wird bei einem Attentat in Ankara getötet. Der Täter ist ein 22 Jahre alter türkischer Polizist, er wird erschossen.

1. Januar 2017

Ein Terrorist greift die Silvesterfeier im Istanbuler Club Reina an und tötet 39 Menschen. Der IS bezichtigt sich der Tat.

13. Februar 2017

Der deutsch-türkische "Welt"-Korrespondent Deniz Yücel wird in Istanbul unter Terrorvorwürfen festgenommen. 13 Tage später wird Untersuchungshaft gegen ihn verhängt. Neben Yücel sitzen mehr als 150 weitere Journalisten in der Türkei im Gefängnis.

16. April 2017

Erdogan gewinnt das Verfassungsreferendum zur Einführung eines Präsidialsystems knapp. Davor kommt es wegen Nazi-Vergleichen Erdogans zu schweren Spannungen mit Deutschland.

21. Mai 2017

Erdogan wird wieder zum Vorsitzenden der Regierungspartei APK gewählt. Nach der Verfassungsreform darf der Präsident wieder einer Partei angehören.