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Talk bei Anne Will: Der Streit um Abgaswerte, der keiner ist

Anne Will und ihre Gäste debattieren um die Stickoxid- und Feinstaubgrenzwerte. Anstoß war ein Positionspapier ihres Gastes Dieter Köhler. (Bild: Screenshot / ARD)
Anne Will und ihre Gäste debattieren um die Stickoxid- und Feinstaubgrenzwerte. Anstoß war ein Positionspapier ihres Gastes Dieter Köhler. (Bild: Screenshot / ARD)

Auch Anne Will springt auf den Debattenzug um die Grenzwerte zur Luftreinhaltung in Deutschland auf. Unnötig, wie der Experte in der Runde zeigt. Dennoch lautet die Ausgangsfrage: Streit um Abgaswerte – sind Fahrverbote verhältnismäßig?

Die Diskutanten

Steffen Bilger (CDU), parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur

Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen), Parteivorsitzende

Dieter Köhler, Facharzt für Lungenheilkunde, ehemaliger Präsident der Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin e.V.

Judith Skudelny (FDP), umweltpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion

Heinz-Erich Wichmann, Epidemiologe und ehem. Direktor des Instituts für Epidemiologie am Helmholtz Zentrum München. Wichmann war Mitglied zahlreicher Beratergremien zu Themen wie Umwelt und Gesundheit, auch für die Weltgesundheitsorganisation (WHO)

Was ist mit dem bestehenden Gesetz? Was ist mit Hardware-Nachrüstungen?

Anne Will moderiert die Sendung an mit folgender Aussage: „Man reibt sich verwundert die Augen angesichts der Heftigkeit der Debatte. Sind die Grenzwerte zu streng? Und die Fahrverbote nicht notwendig?“ Grund ist ein „Positionspapier”, das federführend von Dieter Köhler veröffentlicht wurde, in dem die Wissenschaftlichkeit und die Unabhängigkeit der Grenzwertbestimmung für Feinstaub und Stickoxide angezweifelt werden. Das Papier schlägt seither hohe Wellen, vor allem Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer „freue sich“, dass „Experten die Debatte mit Argumenten versachlichen, indem sie neue Fakten einbringen“. Das Gegenteil ist der Fall, wie die Sendung bei Anne Will am Sonntagabend zeigt. Scheuer war übrigens auch eingeladen, hatte aber keine Zeit.

“Hart aber fair”: Die Wirrungen der Dieselkrise

Den Aufschlag macht Baerbock und reißt kurz die Entwicklung ab: „Ursprung war, dass Menschen, die unter Luftverschmutzung an stark befahrenen Straßen litten, ihr Grundrecht auf saubere Luft eingeklagt haben.“ Dazu sei es gekommen, darauf kommt Baerbock im Verlauf der Sendung immer wieder zurück, weil die Fahrzeughersteller betrogen und die Politik nicht durchgegriffen hätte. Fahrverbote wolle niemand, man bräuchte sie auch nicht, wenn der Verkehrsminister handeln und Hardware-Nachrüstungen durchsetzen würde.

Die wissenschaftlichen Empfehlungen für Feinstaub wurden sogar aufgeweicht

Baerbock macht weiter: „Unser Land ist stark geworden, weil wir auf Wissenschaft und Forschung und Fakten setzen. Weil wir auf das Vorsorgeprinzip setzen, das den Gesundheitsschutz aller Menschen in den Mittelpunkt stellt, dazu zählen auch Junge, Kranke oder Schwangere. Die Grenzwerte wurden auf Grundlage von 70.000 Studien durch die WHO festgelegt. Das Gesetz wurde dann 2010 von der CDU und der FDP umgesetzt. Jetzt, wo es Druck von der Automobilindustrie gibt, beugen wir uns. Das hat mit meinem Rechtsstaats-Verständnis nichts zu tun und führt auch nicht zu sauberer Luft. Von der CSU wird geltendes Recht infrage gestellt.“

Willkürliche Grenzwerte? EU wehrt sich gegen Kritik

Wichmann, der den Stand der Forschung vertritt, erklärt den Prozess der WHO: „Zunächst weist sie ausgewiesene Experten an. Lungenärzte, die in der Forschung arbeiten, Expositionsforscher, die messen und Epidemiologen, die Zusammenhänge zwischen Exposition und Wirkung analysieren. 55 Wissenschaftlicher, Autoren von 600 Schadstoff-Studien, arbeiteten von 2003 bis 2006 an den Richtwerten.“

Will fällt ihm ins Wort: „Ich glaube, wir haben hier im Fernsehen ein anderes Tempo, als Sie in der Wissenschaft.“ Allein der kurze Einwurf zeigt, wie schwierig es ist, Wissenschaft und Medien zu vereinbaren. Denn die Medienmechanismen, also knackig, laut und zugespitzt, stehen konträr zur langsamen und bedachten Wissenschaft. Dennoch ist es wichtig, nicht dem Lautesten zuzuhören, sondern der Person, mit der meisten Expertise. Und das ist in dem Fall Wichmann – auch wenn es länger dauert.

Und der lässt sich auch nicht beirren: „Dann wurden Empfehlungen für Feinstaub und NO2 ausgesprochen.“ Der empfohlene Richtwert für Feinstaub sei doppelt so streng gewesen, wie von der EU letztlich im Grenzwert festgeschrieben. Bei NO2 hielt sich die EU an die Empfehlung. Es stimme zwar, die Grenzwerte seien „politische“ Werte, aber als Grundlage dienten dennoch wissenschaftliche Richtwerte.

Köhlers Positionspapier „diskreditiert den Schutz der Gesundheit“

Will wendet sich daraufhin an Köhler und fragt nach einem Beleg für seine Vorwürfe, die Wissenschaftler seien nicht unabhängig. „Am Anfang hatten die Wissenschaftler beste Absichten. Aber irgendwann musste immer rauskommen, dass Feinstaub und NO2 schädlich ist. Deswegen wurden Ergebnisse sehr einseitig interpretiert.“

Köhler erlangte vor kurzem Berühmtheit, weil er eine Debatte anstieß, die eigentlich keine ist. Weil die überwältigende Mehrheit der Wissenschaft den Standpunkt vertritt, dass Stickoxide gesundheitsgefährdend sind, vielmehr noch bei Feinstaub. Doch Köhler schrieb ein Positionspapier, das von 4.000 angeschriebenen Ärzten 115 unterzeichneten und bringt damit nicht nur die Wissenschaft in Verruf. Er spielt zudem ein bestehendes Gesundheitsrisiko für viele Menschen herunter und gibt der Autoindustrie Scheinargumente in der Debatte um Hardware-Nachrüstungen. Dazu kommt: Köhler untermauert seine Vorwürfe mit keinem Beweis. Weder in seinem Positionspapier, noch in seiner Argumentation.

Wichmann dazu: „Der Weltverband der Lungenärzte mit allen großen Fachgesellschaften aus USA, Europa, Afrika und Asien mit über 70.000 Mitgliedern, davon überwiegend Lungenärzte, sagt, sie stehen voll hinter den Grenzwerten der WHO. Eher würden sie die Grenzwerte strenger setzen.“ Dann spricht er über die Expertise von Köhler: „Er hat an keiner Studie zu dem Thema mitgearbeitet. Dazu zitiert er immer wieder seine ehemalige Präsidentschaft der Deutschen Gesellschaft der Pneumologie. Ich habe gestern mit dem aktuellen Präsidenten telefoniert, auch die Gesellschaft steht voll hinter den Grenzwerten. Der Bundesverband der Pneumologen schrieb jüngst in einer Stellungnahme, es sei befremdlich, dass 100 Kollegen den Schutz der Gesundheit vor Luftschadstoffen so diskreditierten.“

Feinstaub nicht als “Todesursache”

Dazu muss man wissen, dass Köhler als Lungenarzt natürlich Krankheiten sieht, die er auch beurteilen und behandeln kann. Aber nie die Ursachen dafür, denn daran forscht er nicht und kann sich deshalb auch keine Aussage erlauben. Dennoch brachte er in einem früheren Interview vor, dass Feinstaub oder Stickoxide nie als „Todesursache“ eingetragen würden. Das stimmt, denn Stickoxide und Feinstäube verursachen unter anderem Entzündungen in der Lunge, die auf weitere Organe übergreifen. Die Krankheit ist nie die „Feinstaubkrankheit“, sondern Organversagen oder Lungenentzündung oder Asthma. Genauso wenig steht in einem Todesschein als Grund „rauchen“, sondern Lungenkrebs.

Im weiteren Verlauf der Sendung diskutiert die Runde noch über die Messstationen: die „Grenzwerte werden nicht richtig gemessen, die Bewohner in der Region Stuttgart deshalb enteignet“ (Skudelny) und Fahrverbote seien aufgrund der Stationen „unverhältnismäßig“, deshalb würden jetzt „alle Messstationen überprüft“ (Bilger).

Ein Lesetipp zum Schluss: Das Science Media Center hat zur aktuellen Debatte und vor allem zum Positionspapier von Köhler internationale Experten befragt und um ein Statement gebeten. Das hier sind die Antworten.

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