Talk bei Anne Will: Die Volksparteien haben den Kontakt zum Volk verloren

Die Vertreter von CDU und SPD wollen den Abgesang auf die Volksparteien noch verschieben. Dabei sind die Umfragewerte im Keller. Foto: Screenshot / ARD
Die Vertreter von CDU und SPD wollen den Abgesang auf die Volksparteien noch verschieben. Dabei sind die Umfragewerte im Keller. Foto: Screenshot / ARD

Ist die Idee einer Volkspartei überholt? Volksparteien konnten Wähler unterschiedlicher Milieus sammeln und die verschiedenen Strömungen in eine gemeinsame Richtung lenken. Das führte lange Zeit zu stabilen Regierungen. Aber oft auch zu Reformstaus und Unbeweglichkeit. Heute befinden sich CDU, CSU und SPD im Sinkflug, die Grünen und die AfD als Klientelparteien dafür im Aufwind. Anne Will diskutiert mit ihren Gästen: Der Machtverlust – gelingt den Volksparteien ein Neuanfang?

Kurz vor Beginn der Sendung macht ein Gerücht Schlagzeilen: Horst Seehofer tritt zurück. Von seinem Amt als Parteivorsitzender in der CSU und wohl auch als Innenminister. Anne Will fühlt zunächst in ihrer Runde zu dieser Entscheidung des bayerischen Spitzenpolitikers nach. Sie sagt aber auch: „Wir bleiben hier im Konjunktiv. Aus Erfahrung.“ Es wäre ja nicht der erste Rückrücktritt Seehofers.

Die Parteivorsitzende der SPD, Andrea Nahles, eröffnet den Polittalk: „Damit vollzieht die letzte Regierungspartei einen Wechsel. Wir haben es vor einem halben Jahr vorgemacht.“

Anne Will hakt nach: „Aber wie erleichtert sind Sie mit dem Wechsel?“

Andrea Nahles lässt erstmal einige Sekunden verstreichen, ihr Gesichtsausdruck jubelt aber genug. Dann wieder politisch: „Wir warten mal, wer kommt.“ Markus Söder kenne sie ja seit der Zeit in den Jugendorganisationen der Parteien – die Beziehung, naja, die „ging so“. Aber ein Regierungswechsel im Parteivorsitz könne eine reinigende Wirkung haben. „Ob er auch als Innenminister sein Amt ablegt, das liegt nicht an mir, ein Muss zu formulieren.“

Damit sind wir im Thema: Die Volksparteien häuten sich, sie wollen den Wählern ihren Willen zur Erneuerung zeigen. Nur kommt das in den Wahlen nicht an, die Landtagswahlen in Bayern und Hessen gingen für CDU und SPD krachend verloren, auch die Umfragewerte sinken. Wieso?

Peter Altmaier, Bundes-Wirtschaftsminister der CDU, sagt: „Thomas de Maizière, Wolfgang Schäuble, Sigmar Gabriel, Angela Merkel, es fehlt ja nicht an Erneuerungssignalen. Unsere Politik weckt vielleicht eher den Eindruck, verbittert und verbiestert zu sein. Wir wollen auch nicht für Freundlichkeit gewählt werden, aber wieder mehr für die richtigen Entscheidungen.“

Personalerneuerungen haben nichts damit zu tun

In die gleiche Richtung argumentiert Andrea Nahles, dass die Parteien zu sehr mit sich selbst beschäftigt seien: „Wir wollen ein Einwanderungsgesetz machen, eine Grundrente, ein Enddatum für den Ausstieg aus der Braunkohle ohne einen Strukturbruch in der Lausitz. Es war aber nicht mehr möglich, verbindliche Abmachungen zu tätigen, weil der Richtungsstreit in der Union alles überlagert hat.“

Der Richtungsstreit geht jetzt allerdings gerade weiter, nur mit neuem Personal. Denn die CDU befindet sich jetzt auf der Suche nach einem neuen Parteivorsitz, nachdem diesen Angela Merkel angeboten hat. Dafür gibt es drei ernsthafte Kandidaten, Annegret Kramp-Karrenbauer, die sich von ihrem Bild als Merkel-Klon lösen, Jens Spahn, der seine soziale Kälte abschütteln und Friedrich Merz, der seine neoliberale Überzeugung loswerden möchte.

Daher die Frage, ob ein neuer Vorsitz eine Chance für die CDU sei? Peter Altmaier löst sich aber gleich von Personalfragen, erklärt das tieferliegende Problem: „In einer Situation, in der wir viele Protestwähler bei den Linken und der AfD haben und sich die Grünen ordentlich benehmen, da geraten die Volksparteien unter Druck. Die Mitglieder verlangen dann, dass wir CDU-pur, SPD-pur, CSU-pur machen. Je mehr wir das aber machen, desto weniger kann die Regierung funktionieren.“

Die Regierung ist nunmal nur in einer Koalition möglich. Das ist Demokratie. Die Parteien sind also darauf angewiesen, gemeinsam das Land zu regieren und damit Kompromisse zu finden und zu schließen. Das aber bekommen die großen Parteien seit Jahren nicht mehr hin, sie verlieren sich in Debatten, bekriegen sich wie in der Jamaika-Findungszeit, der GroKo danach, dem Dieselgate, der Maaßen-Affäre. Altmaier daher weiter: „Dann denkt sich der Wähler, wieso soll ich denen noch vertrauen? Dabei haben wir es auch in der letzten GroKo geschafft, dass jede Partei drei bis vier Prioritäten herausarbeitet, die ihr wichtig sind. Bei uns waren das ein Haushalt ohne Schulden, keine Steuererhöhungen, ein Zeichen Richtung Europa, ein starkes westliches Bündnis. Wir haben das mit der SPD verhandelt und uns drauf geeinigt und umgesetzt. Das hat der Wähler honoriert.“

Andrea Nahles: „Das können wir ja bald auch wieder machen.“ Allein an diesem Einschub wird die Sehnsucht der Parteienvertreter am heutigen Abend, zurückzukehren zu dieser Zeit, offenbar. Ja, sie wollen wieder Politik machen. Sie haben die Schnauze voll, von dem immerwährenden Streit. Nur sind sie selbst daran schuld.

Ist das Modell der Volksparteien eins für die Zukunft

Es wird daher nur gelingen, wenn die Volksparteien wieder bereit sind, eben diese Kompromisse zu schließen und sich auch gegenseitig politische Erfolge zugestehen. Was damit einhergeht, dass wieder eine stärkere Profilierung stattfinden muss, damit sich die Prioritäten nicht überlagern.

Jürgen Trittin von den Grünen erklärt dann ein grundlegendes Problem der CDU: „Weil es die AfD gibt, wird die CDU mit einer Partei aus dem anderen Lager koalieren und Kompromisse schließen müssen. Das ist ein Problem, das alle demokratische Parteien haben. Es ist ein strategisches Dilemma, dass die demokratischen Parteien ihre Inhalte zeigen müssen und gleichzeitig erklären, wieso sie ihre Inhalte in dieser Konstellation nicht absolut einbringen können.“

Ein letzter kurzer Schwenk am Abend vollführt nochmal Jürgen Trittin, der ist aber ein wenig Eigenwerbung, da sich die Grünen seit einiger Zeit als Partei der radikalen Lösungen für eine individualisierte Gesellschaft präsentieren: „Ich weiß nicht, ob das Modell Volkspartei in einer pluralen, sehr individualisierten Gesellschaft mit sehr unterschiedlichen Lebenslagen noch funktioniert. Vielleicht müssen wir uns auf ein neues Parteiensystem einigen. Auf kleinere Parteien, die zusammengehalten werden von gemeinsamen Haltungen und Werten und in einem System darauf angewiesen sind, Kompromisse zu schließen.“

Aber klar, sowohl Peter Altmaier als auch Andrea Nahles wollen dem Abgesang auf die Volksparteien noch nicht zustimmen. In den Ländern, in denen die Ausdifferenzierung der Parteien schon geschehen sei, Belgien, Italien, Niederlande, um nur drei Beispiele zu nennen, da sei das Leben nicht leichter oder besser geworden, die Regierungen scheiterten öfter, bräuchten länger bei der Bildung. Vielmehr müssten sich die Volksparteien ändern, damit sie mehr Menschen auf sich vereinigten.

Dazu noch die Politikwissenschaftlerin Ursula Münch: „Die Volksparteien haben den Bezug in das Volk verloren. Nicht nur auf eigenes Verschulden hin. Aber sie sind keine starken Mitgliederparteien mehr. Viele Aufgaben sind in den letzten Jahrzehnten professionalisiert worden, das machen keine Bürger mehr, so verlieren die Parteien den Kontakt ins Volk. Es fehlt ein Verbindungsglied. Die Parteien wirken wie Staatsapparate, sie sind keine Gruppierungen mehr, die aus dem Volk herauskommen. Es ist eine große Kunst, dieses Wurzelgeflecht wiederherzustellen.“