Talk bei „Hart aber Fair“ über die Pflicht, sich zu entscheiden

Frank Plasberg diskutiert mit seinen Gästen Jens Sphan, Annalena Baerbock, Michael und Ulrike Sommer und Werner Bartens über die Widerspruchslösung. Foto: Screenshot / ARD
Frank Plasberg diskutiert mit seinen Gästen Jens Sphan, Annalena Baerbock, Michael und Ulrike Sommer und Werner Bartens über die Widerspruchslösung. Foto: Screenshot / ARD

Der Moderator Frank Plasberg nahm den neuen Gesetzesentwurf zur Organspende als Anlass und fragte: „Moralischen Zwang zur Organspende: Wollen Sie das, Herr Spahn?“ Darauf antwortet der CDU-Politiker gleich selbst. Vor sechs Jahren hätte er die Frage noch verneint, jetzt befürwortet er die Widerspruchslösung.

Es diskutierten:

Jens Spahn (CDU): Bundesgesundheitsminister
Annalena Baerbock (B’90/Grüne): Bundesvorsitzende
Werner Bartens: Mediziner, Redakteur im Wirtschaftsressort der Süddeutschen Zeitung
Ulrike Sommer: Journalistin und Schriftstellerin
Michael Sommer: ehemaliger Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes
Chantal Bausch: Hockey-Sportlerin

Um wen es ging:

Gleich zu Beginn erzählt die Sportlerin und Studentin Chantal Bausch im Einzelgespräch über ihre Transplantation. Im Alter von zwölf Jahren bekam sie ein neues Herz. Dreieinhalb Monate warteten sie und ihre Familie voller Hoffnung, voller Angst, in einem Zwiespalt, denn es musste jemand sterben, damit sie weiterleben kann. Sie ist dankbar für das Geschenk. Ohne ihr neues Herz wäre sie heute nicht mehr da.

Um was es eigentlich ging:

Um Menschen wie Bausch ging es dem Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, als er jüngst seinen neuen Gesetzesentwurf vorstellte. Demnach wird jeder zum Organspender, der nicht zu Lebzeiten Nein sagte. Drei Mal soll jeder Bürger durch einen Brief auf das neue Gesetz hingewiesen werden. Damit will Spahn vermeiden, dass man Organspender werden kann, ohne es zu wissen. Das heißt aber auch, dass sich jeder mit dem Thema beschäftigen muss. Man kann es nicht einfach auf die unerledigte To-do-Liste schreiben. „Doch gibt es nicht auch ein Recht zu sagen, ich will mich damit nicht befassen?“, fragt Plasberg. „Das ist das gewichtigste Gegenargument“, gibt Spahn zu. Er selbst hatte vor sechs Jahren die Widerspruchslösung abgelehnt, weil sie einen “Eingriff in die Freiheit” darstellt. Jetzt will er nicht noch einmal so lange warten, denn die Zahlen der Organspender sind rückläufig und 9.400 Personen auf der Warteliste. „Die Betroffenen können sich nicht entscheiden. Deshalb haben wir, aus einem gesellschaftlich moralischen Ansatz heraus, die Pflicht uns damit zu beschäftigen“, sagt Spahn: „Jeder kann morgen schon selber auf einen Spender angewiesen sein.“

Die Journalistin Ulrike Sommer ist gegen den neuen Entwurf, obwohl sie selbst eine Niere von ihrem Mann trägt. Sie wirft Spahn vor, dass das Gesetz darauf zielt, dass die Leute vergessen zu widersprechen. Sie selbst könne es nicht ertragen, dass ihrer Tochter Organe entnommen werden, nur weil sie zu Lebzeiten nicht Nein sagte. Auch der Mediziner Werner Bartens empfindet die Unversehrtheit des Körpers als wichtiges Gut. Für ihn war es ein tröstliches Gefühl, nach dem Tod seines Vaters zu wissen, dass wenigstens der Körper intakt ist. Er zitiert die Dichterin Mascha Kalénko: „Den eigenen Tod, den stirbt man nur, doch mit dem Tod der andern muss man leben.“ Dem neuen Gesetzesentwurf zufolge werden die Angehörigen zwar gefragt, ob der Tote tatsächlich nicht widersprochen hat, doch dies dient nur der Absicherung, ein Mitspracherecht haben sie nicht.

Die Politikerin der Grünen Annalena Baerbock will in ihrem Vorschlag die Bedenken der Kritiker aufnehmen. Doch viel Zustimmung findet sie nicht unter den Debutanten. Foto: Screenshot / ARD
Die Politikerin der Grünen Annalena Baerbock will in ihrem Vorschlag die Bedenken der Kritiker aufnehmen. Doch viel Zustimmung findet sie nicht unter den Debutanten. Foto: Screenshot / ARD

Was sonst noch besprochen wurde:

Deshalb ist die Politikerin der Grünen Annalena Baerbock für einen abgeänderten Entwurf. Sie möchte beide Seiten zusammenbringen. Damit kein Bürger vergessen wird, soll er bei der Beantragung des Personalausweises gefragt werden, ob er Organspender werden möchte. Er soll Dokumente mit nach Hause bekommen, die ihn informieren, mit denen er sich innerhalb der Familie auseinandersetzen kann. Danach gibt es drei Entscheidungsmöglichkeiten: „ja“, „nein“ und „ich möchte mich nicht mit dem Thema befassen“. Nur ist das Amt ein geeigneter Ort, um über Organspende zu reden? Ulrike Sommer ahmt eine blökende Angestellte nach. Die Atmosphäre auf dem Amt ist kalt, jeder kann mithören. „Dann kann ich das gleich auf der Tankstelle machen“, kommentiert Bartens den Vorschlag.

Was es über Begriffe zu sagen gab:

Nach fünfundvierzig Minuten hat jeder seine Meinung gesagt, und die Debatte beginnt sich zu wiederholen. Bartens weist noch darauf hin, dass in der Diskussion nicht richtig mit medizinischen Fakten umgegangen wird. Er ist der Meinung, man sollte nicht von Hirntoten, sondern von Sterbenden sprechen. „Das Herz schlägt, der Körper ist warm, der Brustraum hebt und senkt sich“, sagt der Mediziner. Doch der Prozess des Hirntods ist unumkehrbar – das gibt auch er zu.

Was oft falsch verstanden wird:

Bartens stört sich auch daran, dass man so tut, als würden Kranke zu Gesunden werden. Wer aber ein Organ transplantiert bekommen, kämpft danach oft mit Abstoßungsreaktionen, muss Medikamente schlucken und das neue Organ hält nicht lebenslang. Es schenkt nur Zeit. Der ehemalige Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes Michael Sommer sagt über die Spende seiner Niere an seine Frau: „Wir haben jetzt fünf Jahre bekommen, und wir empfinden das als fünf geschenkte Jahre.“

Was wir schon wussten:

Was am Ende bleibt, ist die Gewissheit, dass Organspende ein heikles Thema ist. Das zeigen vor allem die Reaktionen in Kommentaren auf Facebook. Aus Wut über den neuen Gesetzesentwurf zerrissen viele Nutzer ihren Organspendeausweis. Nur ist es für viele Menschen überlebensnotwendig, dass sich eben andere mit dem Thema beschäftigen. Und gerade für die Leute, die sich nicht um einen Ausweis kümmern, aber gerne einen hätten, könnten das Gesetz die notwendigen Hürden senken.