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"Tatort" zur Deutschen Einheit: Sternstunde für ältere Schauspieler

Ein politisch schwer aufgeladener "Tatort" am Wochenende der "Deutschen Einheit" ließ die Berliner Kommissare Rubin (Meret Becker) und Karow (Mark Waschke) in einer "Modellfamilie" der deutschen Geschichte ermitteln. Das Beste an dem staatstragenden Krimi waren die grandiosen älteren Schauspieler.

Puh, dieser "Tatort" war auf eine sehr deutsche Art "schwer": Kriegsschuldige und Versöhner, Wendegewinner und -verlierer, neue Rechte und Linke, sowie ein Sack voll Familienzwistigkeiten sollten allesamt in ein Drehbuch von knapp 90 Minuten passen. Das Ganze war selbstredend in dunklen Farben gemalt, denn hier dachten Deutsche über sich selbst nach. Nicht nur in diesem Krimi fiel auf, wie oft in letzter Zeit sehr betagte Schauspieler Krimi-Rollen übernehmen, die noch vom Krieg erzählen können. Dabei erschuf "Ein paar Worte nach Mitternacht"-Autor Christoph Darnstädt eine der besten Szenen dieser Art, als er die 85-jährige Schauspielerin Katharina Matz vom Verrat einer jüdischen Freundin an die Gestapo im Kindesalter erzählen ließ.

Worum ging es?

Kurz nach der Feier seines 90. Geburtstags liegt Unternehmer Klaus Keller (Rolf Becker) erschossen auf seiner Terrasse. Um den Hals trägt er ein Schild mit den Worten: "Ich war zu feige, für Deutschland zu kämpfen". Keller war Seniorchef einer Berliner Baufirma, sein aktuell wichtigstes Projekt war die Errichtung eines Dokuzentrums über die Shoa in Israel. War der Mord ein rechtsradikaler Anschlag? Die politischen Gegner des Patriarchen finden sich in der Familie selbst, sozusagen als deutscher Werte-Mikrokosmos: Klaus' Bruder Gert (Friedhelm Ptok) machte nach dem Krieg "Karriere" im Osten der Stadt. Als Stasi-Major, SED-Funktionär - und späterer Wendeverlierer. Gerts Sohn Fredo (Jörg Schüttauf) radikalisierte sich nach der Wende als Neonazi und arbeitet mittlerweile als "völkischer Abgeordneter". Noch mehr politische "Farben" gefällig? Klaus Kellers Enkel Moritz (Leonard Scheicher) verehrt seinen Großvater, sieht jedoch seinen Kapitalisten-Vater und eigentlichen Chef der Baufirma äußerst kritisch. Moritz lebt in einem linken Wohnprojekt und torpediert die Lebenshaltung seiner Eltern. Viel mehr biografischer Stoff in nur einem Krimi geht wohl nicht.

Worum ging es wirklich?

Kaum verschleiert: um Verdichtung und "Vererbung" sämtlicher deutscher History-Großereignisse seit 1945 in einer Familie. Fehlte eigentlich nur noch ein Cousin, der als ehemaliger Fußball-Nationalspieler Deutschland zum WM-Gewinn 1990 schoss. Herr Brehme, ist ihr wahrer Name Keller? Etwas didaktisch, ziemlich schwermütig, aber auch nicht falsch: "Ein paar Worte nach Mitternacht" zeigte, warum sich die Deutschen so schwer mit sich selbst tun. Die Kriegsschuld, der Holocaust - es sind tiefe Wunden, die jene letzten Überlebenden ihren Kindern, Enkeln und Urenkeln hinterlassen.

Gibt es einen Boom "letzter Kriegszeugen" im deutschen Krimi?

Um als zehnjähriges Kind das Ende des Zweiten Weltkrieges erlebt zu haben, muss man heute 85 Jahre alt sein. Für einen 15-jährigen Jugendlichen, der wie im "Tatort" in Hitlers letztem Aufgebot kämpfte, braucht man schon eine 90-jährige Figur respektive ihren Schauspieler. 2020 stolpert man dennoch im deutschen Krimi über Drehbücher, die von solchen Figuren erzählen. So zum Beispiel im Saarland-"Tatort: Das fleißige Lieschen" vom April, in dem Dieter Schaad, Jahrgang 1924, ebenfalls einen Unternehmer-Patriarchen gab. Auch in Anna Maria Mühes kommendem "Solo für Weiss"-Krimi mit dem Titel "Schlaflos" (Montag, 19.10., 20.15 Uhr, ZDF) kommt eine solche Figur vor. Heinz Lieven, Jahrgang 1928, gibt darin den Drittes-Reich-Veteranen. Natürlich ebenfalls als - halbdementes - Ex-Oberhaupt einer reichen, einflussreichen Familie.

Wer sind die ältesten, noch aktiven deutschen Schauspieler?

Die erwähnten Dieter Schaad (1924) und Heinz Lieven (1928) dürften in diesem Ranking schon ziemlich weit vorne liegen. Rolf Becker, Schauspieler des 90-jährigen Opfers in "Ein paar Worte nach Mitternacht", ist mit seinem Jahrgang 1935 hingegen fast schon eine "jugendliche" Besetzung. Der Berliner Schauspieler Herbert Köfer, geboren 1921 - und 1952 übrigens erster Nachrichtensprecher des deutschen Fernsehens ("Aktuelle Kamera") - sicherte sich im September 2017 gar den Eintrag im deutschen Rekordinstitut als "ältester, aktiver Schauspieler der Welt". Im Februar 2020 feierte Köfer seinen 99. Geburtstag.

Was war die berührendste Szene?

Die beste Szene dieses Deutschland-"Tatorts" gehörte eindeutig einer Schauspielerin, der 85-jährigen Katharina Matz. Die jüdische Kommissarin Rubin besucht sie als demente Frau des Opfers im Pflegeheim. Während das Kurzzeitgedächtnis der alten Dame so schlecht ist, dass sie sich jeden Vormittag neu auf den Besuch ihres geliebten, aber eben kürzlich verstorbenen Manns freut, sind die Erinnerungen an ihre Zeit im "Bund Deutscher Mädel" noch kristallklar. Wenn sich vor Else Kellers Augen noch einmal jener Moment abspielt, als die Familie ihrer jüdischen Freundin im Haus gegenüber von der Gestapo abgeholt wird - nachdem Else sie verraten hat, hat nicht nur Kommissarin Rubin schwer an der fantastischen Szene zu schlucken. Es ist ein Filmmoment, der einen das deutsche Schulderbe so deutlich spüren lässt, wie sonst kaum etwas, das man zuvor im Krimi-Fernsehen gesehen hat.

Wie geht es weiter beim Berliner "Tatort"?

2021 wird es noch einmal zwei neue "Tatorte" mit Meret Becker und Mark Waschke geben. Film eins mit dem Arbeitstitel "Die dritte Haut" wird Ende dieses Jahres gedreht und voraussichtlich im Sommer 2021 im Ersten ausgestrahlt. Die zweite rbb-"Tatort"-Produktion mit dem Arbeitstitel "Teufelskind" soll Anfang 2021 entstehen und ist voraussichtlich zum Jahresende im Ersten zu sehen sein. Nach diesen beiden Fällen hängt Meret Becker ihren "Tatort"-Job an den Nagel. Neue Berliner Kommissarin wird, wie bereits seit längerem bekannt, Corinna Harfouch ("Lara").

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