Tatort in Stuttgart: Durch die Augen eines Lügners

Manuel Rubey spielt den gehetzten Hauptverdächtigen Jakob Gregorowicz: Die Schlinge zieht sich immer weiter zu. Foto: SWR / Alexander Kluge
Manuel Rubey spielt den gehetzten Hauptverdächtigen Jakob Gregorowicz: Die Schlinge zieht sich immer weiter zu. Foto: SWR / Alexander Kluge

Das schwäbische Ermittlerpaar Thorsten Lannert und Sebastian Bootz feiert zehnjähriges Dienstjubiläum. Und zeigt sich dafür ganz uneitel, denn die Kommissare rücken für die Geschichte komplett in den Hintergrund. Der Stuttgarter Tatort wird konsequent aus Sicht des Verdächtigen erzählt. Wie er sich verstrickt in seine Lügen und ihm die Ermittler immer näherkommen. Das ist bedrohlich wie begeisternd. Ein ganz starker Tatort: „Der Mann, der lügt“.

Die Traumszene flackert noch nach in seinem Blick. Da ist Blut. Da ist Gewalt. Jemand wird getreten. Jakob Gregorowicz (Manuel Rubey) wacht schweißüberströmt auf. Dann läuft er die Treppe hinunter, frisch geduscht, küsst seine Frau, scherzt mit seiner Tochter. Perfektes Familienidyll: „Was für ein herrlicher Tag“, sagt er noch.

In seinem Volvo branden die Beach Boys aus den Boxen, Surfin‘ USA. Jakob Gregorowicz sieht gut aus, er macht 100.000 Euro im Jahr und lebt in einem wunderschönen Haus. Abrupt wird sein Leben auf den Kopf gestellt: Am Arbeitsplatz wartet die Kriminalpolizei. Thorsten Lannert (Richy Müller) und Sebastian Bootz (Felix Klare) lächeln ihn an.

„Machen Sie sich keine Sorgen. Wir halten Sie nicht lange auf. Kennen Sie einen Uwe Berger?“

„Wir hatten gemeinsame Bekannte, aber keinen Kontakt mehr.“

„Können Sie sich erklären, wieso Ihr Name gestern in seinem Terminkalender auftaucht?“

„Wie? Mir fällt ein, dass einer seiner Mitarbeiter bei mir angerufen hat, weil ich ihm vor Jahren meine Visitenkarte gegeben habe. Das kommt manchmal vor.“

Die Ermittlung reißt den Verdächtigen aus dem Alltag

Später beim Tennis, Jakob und seine Frau Katharina (Britta Hammelstein) spielen mit ihren Freunden. Da taucht schon wieder Kommissar Lannert auf. Er hat noch Fragen.

„Wir haben das Adressbuch gefunden. Es gab dieses Jahr fünf Termine zwischen Ihnen und Berger.“

„Ja, die sind zustande gekommen.“

„Führen wir das Gespräch doch auf dem Präsidium fort.“

Katharina schaltet sich ein: „Wir kommen mit dem Anwalt.“

„Das wird nicht nötig sein, Herr Gregorowicz wird nur als Zeuge befragt.“

„Für was denn überhaupt?“

„Uwe Berger wurde gestern tot in seinem Haus gefunden.“

Bei der Befragung dann sitzt Katharinas Bruder Moritz (Hans Löw) mit dabei, er ist Anwalt. Die Kommissare erklären:

„Uwe Berger ist verblutet. Er hatte eine tiefe Wunde am Hals. Es gibt neue Informationen. Wieso, Herr Gregorowicz, haben Sie uns vorenthalten, dass Sie Uwe Berger gut kannten?“

Katharina antwortet: „Es lag an mir. Ich mochte den Berger nicht, mit seinen Affären, er war großkotzig. Deswegen hat Jakob das verschwiegen.“

„Ja, ein Reflex“, lacht der hysterisch.

Beim Verlassen der Polizeistation dreht sich Jakob um, die Kommissare schauen ihm lange hinterher. Sie wirken bedrohlich.

Thorsten Lannert und Sebastian Bootz schauen meist finster drein. Foto: SWR / Alexander Kluge
Thorsten Lannert und Sebastian Bootz schauen meist finster drein. Foto: SWR / Alexander Kluge

Danach fährt Jakob an seinen Arbeitsplatz, öffnet eine Schublade, zerschneidet eine Speicherkarte, steckt ein Wegwerfhandy in seine Hosentasche. Die Kamera ist ihm dicht auf den Fersen. Manchmal nimmt sie auch seine Perspektive ganz ein, dann verschwimmt die Sicht, Jakobs Blick zuckt durch die Gegend.

Mit jeder Szene verstrickt sich Jakob mehr und mehr in seine Lügen. Und die Kommissare kommen ihm mehr und mehr auf die Schliche. Sie tauchen immer wieder plötzlich auf, lassen nicht mehr von ihm ab, dringen in seine Privatsphäre sein. Die Schlinge zieht sich zu. Der Stuttgarter Tatort dreht auf diese Weise den gemeinen Fernsehkrimi auf den Kopf. Die Zuschauer sehen nicht den Kommissaren über die Schulter, wie sie rätseln und knobeln, sondern sie sind der Hauptverdächtige. Sie teilen sein Gefühl, gejagt zu werden.

Dadurch wird mit den Zuschreibungen Gut und Böse gespielt. Denn obwohl Jakob eindeutig ein Lügner ist, fällt eine Identifikation mit ihm leicht, gar eine Sympathie. Der Familienvater und Ehemann, der vielleicht nur lügt, um zu schützen? Die Polizei wirkt hingegen bedrohlich, man spürt, wie die Ermittlung immer mehr Druck erzeugen soll, bis Jakob darunter zusammenbricht, auspackt, gesteht.

Ein durch und durch gelungener Tatort

Dieses Gefühl kumuliert im Höhepunkt des Tatorts. Einer zehnminütigen Befragung im sogenannten „Stuttgarter Verhörraum“, in dem das Mobiliar festgeschraubt ist, weil einmal ein Verdächtiger getobt hat. Das ist subversiv wie aggressiv. Stundenlang wird Jakob befragt, die Atmosphäre ist zum Zerreißen gespannt. Bis es dunkel wird und dunkle Schatten in den Gesichtern der Kommissare liegen. Sie wirken finster.

Der Stuttgarter Tatort ist durch und durch gelungen, denn er bietet eine neue Perspektive: Der Zuschauer fährt in die Haut des Verdächtigen. Er teilt das Gefühl der Ohnmacht, wenn zuhause eine Hausdurchsuchung nur Chaos hinterlassen hat, er teilt die Gehetztheit, die eine Ermittlung auslöst, er teilt den totalen Kontrollverlust, wenn das Lebenskonstrukt in sich zusammenfällt. Das ist spannend, wenn man sich darauf einlässt.

Manuel Rubey spielt den verdächtigen Jakob großartig, unverbindlich und einnehmend in jeder Lüge, zittrig und fahrig, wenn er dabei ertappt wird. Mit jeder Szene wird sein Leben weiter dekonstruiert, seine Lebenslüge enttarnt und er gibt sich dabei immer getriebener. Die beiden Kommissare Lannert und Bootz nehmen sich für ihr zehnjähriges Jubiläum nicht nur zurück was die Screentime angeht. Sie schlüpfen sozusagen in ganz neue Rollen als Antagonisten. Und das Beste daran: Es bereitet ihnen sichtlich Freude.