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Teenager-Zwangsehen - Sommerferien als Risiko

Eine junge Muslimin trägt ein Kopftuch zu einem modernen, westlichen Kapuzenpullover. Foto: Wolfram Steinberg/Illustration
Eine junge Muslimin trägt ein Kopftuch zu einem modernen, westlichen Kapuzenpullover. Foto: Wolfram Steinberg/Illustration

Sommerferien sind Reisezeit. Für manche Schülerinnen mit ausländischen Wurzeln endet der Trip ins Heimatland aber gegen ihren Willen mit einer Heirat. Zwangsehen seien keine Einzelfälle, warnen Hilfsorganisationen.

Berlin (dpa) - Bloß nicht ins Flugzeug steigen! Was nach einem klimafreundlichen Ratschlag für die Sommerferien klingt, kann für Schülerinnen mit ausländischen Wurzeln eine ganz andere Bedeutung haben.

Manchen jungen Mädchen drohe im Heimatland ihrer Eltern die Zwangsverheiratung, sagt Petra Koch-Knöbel, Frauenbeauftragte im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg. Jedes Jahr blieben nach den Ferien einige Plätze in den Klassenzimmern leer.

Auch bei der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes kennt Referentin Myria Böhmecke das Risiko Sommerferien. Oft stiegen kurz vorher die Anfragen verängstigter Mädchen in Hilfs- und Beratungsstellen. «Zwangsverheiratungen in Berlin sind keine Einzelfälle», betont Böhmecke. Sie drohten Mädchen und jungen Frauen auch bundesweit noch in der zweiten und dritten Migranten-Generation. Es sei nicht allein ein islamisches Phänomen, sondern liege vor allem an streng patriarchalischen Strukturen in Familien.

«Die meisten Mädchen haben eine Ahnung, um was es geht. Aber viele glauben, dass sie vor Ort noch Nein sagen können oder dass es nur um eine Verlobung geht», berichtet Böhmecke. «Das stimmt aber oft nicht. Sobald sie dort sind, werden ihnen der Pass, das Rückflugticket und das Handy abgenommen. Sie werden entweder eingesperrt oder stehen unter massiver Kontrolle.»

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Verlässliche Zahlen für das Ausmaß von Zwangsehen gibt es nicht, nur Annäherungen. Im November 2018 veröffentlichte der Berliner Arbeitskreis gegen Zwangsverheiratung die jüngsten Zahlen aus einer Umfrage bei rund 1000 Hilfseinrichtungen und Schulen in der Hauptstadt. Danach gab es 2017 in 570 Fällen Beratungen zum Thema Zwangsehe.

Die meisten Betroffenen waren Mädchen zwischen 16 und 21 Jahren mit arabischen und türkischen Wurzeln. Familien stammten aber auch aus kurdischen Gebieten, vom Balkan, aus Bulgarien und Rumänien. Es gab jüdische, jesidische und christliche Elternhäuser. 117 Mal wurde eine Zwangsheirat nach der Berliner Umfrage vollzogen, 92 Mal war sie konkret geplant, 113 Mal wurde sie befürchtet. «Wir gehen davon aus, dass die Dunkelziffer viel höher ist», sagt Koch-Knöbel.

Bundesweite Umfrage-Zahlen sind mehr als zehn Jahre alt. 2008 wurden für eine Studie des Bundesfamilienministeriums fast 3500 Beratungen erfasst. Davon fanden 1771 vor einer Zwangsehe statt, 937 danach und 235 sowohl vorher als nachher. Auch diese Annäherung gilt nicht als repräsentativ. Terre des Femmes hält eine neue Studie für dringend nötig und schätzt, dass die Zahlen heute höher liegen.

Auch mit deutscher Staatsangehörigkeit sei es nach einer Zwangsehe schwer, zurückzukehren, berichtet Referentin Böhmecke. «Daher raten wir dringend davon ab, in ein Flugzeug zu steigen. Auch, wenn es nur um einen Verdacht geht, dass eine Zwangsheirat geplant ist.» Denn ohne Geld kämen die Mädchen im Ausland nicht zur deutschen Botschaft. Und die Polizei dort bringe sie meist sofort wieder zu ihren Familien zurück.

Nein zu sagen sei aber oft gar nicht so einfach, betont Böhmecke. «Mädchen werden manchmal unter falschen Versprechungen in das Herkunftsland ihrer Eltern gelockt. Ihnen wird zum Beispiel gesagt, dass sie nur in die Ferien fahren.» Oder aber es werde sozialer Druck ausgeübt: Der Großvater sei sehr krank und man wolle ihn zum letzten Mal besuchen.

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Frauenbeauftragte Petra Koch-Knöbel bietet in Berlin Fortbildungen für Lehrer und Schulsozialarbeiter an, speziell vor den Sommerferien. Das Interesse daran sei bisher eher verhalten, bedauert sie. «Wir würden uns mehr Problembewusstsein wünschen.»

Schule und Jugendamt hätten jedoch wenig Möglichkeiten, einzugreifen, sagt Myria Böhmecke. Vor allem, wenn vorher keine Gewaltsituation ersichtlich war, die Eltern das Sorgerecht hätten und es keine Beweise für eine Zwangsheirat gebe. Motive der Eltern seien oft Ehrbegriffe aus ihrem Herkunftsland. An solchen Traditionen werde oft festgehalten, vielleicht besonders, wenn sich eine Familie in Deutschland nicht wirklich angekommen fühle.

Mit der Weigerung, in ein Flugzeug zu steigen, beginnt für junge Mädchen ein noch größeres Problem. Wohin? Zwar gibt es in Berlin und anderen Städten Notdienste und Hilfseinrichtungen. «Die Mädchen haben aber häufig große Angst, gefunden zu werden. Es ist auch schwierig, sich dauerhaft vor der gesamten Familie zu verstecken», sagt Böhmecke. «Sie kommen nicht per se ins Zeugenschutzprogramm.» Außerdem wollten die Mädchen die Familie gar nicht verlassen, sondern hofften bis zum Schluss, dass es eine Einigung gibt und sie den Mann nicht heiraten müssen. «Das aber ist oft ein Irrtum.»

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