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Terrorgefahr in Kabul bleibt weiterhin hoch

US-Präsident Joe Biden (2.v.r) und First Lady Jill Biden (r) bei der Rückführung von 11 der 13 US-Soldaten, die beim Selbstmordanschlag in Kabul getötet wurden.
US-Präsident Joe Biden (2.v.r) und First Lady Jill Biden (r) bei der Rückführung von 11 der 13 US-Soldaten, die beim Selbstmordanschlag in Kabul getötet wurden.

US-Präsident Biden beschreibt die Lage in Kabul als «extrem gefährlich» - wenige Tage vor dem vollständigen Abzug der amerikanischen Truppen greift das US-Militär nun direkt aus der Luft an.

Kabul/Berlin/Washington (dpa) - Zeitgleich zum laufenden Abzug der US-Truppen aus der afghanischen Hauptstadt Kabul spitzt sich dort jetzt auch der Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) zu.

«Unmittelbare Bedrohung» beseitigt

Das US-Militär griff am Sonntag nach eigenen Angaben mit einer Drohne ein Auto des örtlichen IS-Ablegers in Kabul an. Nach dem Anschlag vom Donnerstag mit Dutzenden Toten wurde damit möglicherweise ein weiterer schwerer Terrorangriff verhindert. US-Präsident Joe Biden warnte, dass die Lage in Kabul «extrem gefährlich» bleibe.

Es habe nach dem Luftangriff eine «bedeutende sekundäre Explosion» gegeben, teilte das US-Zentralkommando mit. Das lasse vermuten, dass das angegriffene Fahrzeug wohl eine große Menge Sprengstoff geladen hatte, teilte Sprecher Bill Urban mit. Eine «unmittelbare Bedrohung» für den Flughafen sei beseitigt worden. Hinweise auf zivile Opfer des Angriffs gebe es zunächst nicht.

Augenzeugen: Kinder unter Opfern

Der lokale Fernsehsender ArianaNews berichtete dagegen unter Berufung auf Augenzeugen, dass sechs Menschen, darunter vier Kinder, beim Einschlag einer Mörsergranate in einem Kabuler Privathaus im 15. Polizeibezirk getötet worden seien. Dabei seien zwei Fahrzeuge und Teile des Hauses zerstört worden. Es war nicht unmittelbar klar, ob diese Opfer möglicherweise nicht einer Mörsergranate, sondern dem US-Luftschlag zuzurechnen gewesen seien. Im 15. Polizeibezirk befindet sich auch der Flughafen.

Die Bedrohung durch Anschläge am Flughafen, wo der Truppenabzug der USA begonnen hat und wo die letzten militärischen Evakuierungen laufen, ist sehr hoch. Am Donnerstag hatte sich dort laut US-Angaben ein Attentäter der IS-Terrormiliz an einem Tor in die Luft gesprengte. Bei dem Anschlag wurden Dutzende getötet, darunter auch 13 US-Soldaten im Alter zwischen 20 und 31 Jahren. Das US-Militär hatte zunächst mit einem Drohnenangriff in der Provinz Nangarhar reagiert und nach eigenen Angaben zwei ranghohe Vertreter des IS-Ablegers getötet.

Kampflose Übernahme

Die militant-islamistischen Taliban hatten Kabul nach ihrem Siegeszug durch das Land vor 14 Tagen kampflos eingenommen. Seitdem sind sie die neuen Machthaber. Nach dem Abzug der internationalen Truppen bis zum 31. August wird es neben der Sicherheitslage vor allem auch um die Frage gehen, wie Schutzbedürftige noch sicher ausreisen können. Dabei wird man auf die Taliban angewiesen sein, etwa beim freien Geleit an Checkpoints auf dem Landweg oder bei der Wiederaufnahme des Flugbetriebs in Kabul.

Kurz vor dem Ende ihrer militärischen Evakuierungsmission flogen die USA und Verbündete innerhalb von 24 Stunden noch einmal rund 2900 Menschen aus. Davon habe die US-Luftwaffe bis zum Sonntagvormittag (Ortszeit Kabul) mit 32 Flügen rund 2200 Menschen in Sicherheit gebracht, teilte das Weiße Haus mit. Seit Mitte August seien insgesamt gut 114.000 Menschen ausgeflogen worden.

Private Rettungsinitiative

Die Bundeswehr hatte ihren Evakuierungseinsatz am Donnerstag beendet. In der Nacht zum Sonntag wurden mit Unterstützung aus Deutschland aber noch mehr als 300 weitere Schutzbedürftige ausgeflogen. Laut Bundesregierung waren darunter etwa 140 Deutsche sowie Ortskräfte und Mitarbeiter eines Auftragsunternehmens des beendeten Nato-Einsatzes. «Zeit» und «Spiegel» berichteten zudem, dass 189 Schutzbedürftige organisiert von der privaten Rettungsinitiative Luftbrücke Kabul ausgeflogen wurden, darunter auch Mitarbeiter deutscher Medien.

Die Initiative machte der Bundesregierung schwere Vorwürfe wegen fehlender Unterstützung. 18 gefährdete Ortskräfte seien «mit immensem Aufwand» in Sicherheit gebracht worden - «dabei hätten es hunderte mehr sein können», hieß es in einer Erklärung der zivilgesellschaftlichen Initiative. Das Auswärtigen Amt habe die Aktion «aktiv blockiert». Aus der Bundesregierung wurde die Kritik zurückgewiesen.

Söder für EU-Schutzzone

Deutschland hofft darauf, dass Schutzsuchende das Land künftig auch mit zivilen Flugzeugen verlassen können. Es ist aber unklar, wann der Flughafen von Kabul wieder zivile Flugzeuge abfertigen kann. Der CSU-Vorsitzende Markus Söder sprach sich für eine EU-Schutzzone auf dem Flughafen aus, um wieder Evakuierungsflüge durchführen zu können. Verhandlungen darüber müssten sofort beginnen, sagte der bayerische Ministerpräsident der «Bild am Sonntag». Europa müsse sich endlich auch militärisch konsequent koordinieren.

Frankreich will eine solche Sicherheitszone mit Großbritannien dagegen im UN-Sicherheitsrat durchsetzen. Das sagte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron der Zeitung «Le Journal du Dimanche». Ziel seien «gezielte humanitäre Einsätze für Evakuierungen», die nicht über den Militärflughafen in Kabul laufen. Der Rat soll am Montag über eine entsprechende Resolution diskutieren. UN-Generalsekretär António Guterres will sich am Montag auch mit den fünf ständigen Ratsmitgliedern - das sind die USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien - wegen der Lage in Afghanistan treffen.

Maas besucht Afghanistan-Nachbarstaaten

Bundesaußenminister Heiko Maas brach am Sonntag zu einer viertägigen Reise in fünf Länder auf, die eine Rolle bei weiteren Bemühungen um die Ausreise Schutzsuchender spielen. Im türkischen Antalya bot der SPD-Politiker finanzielle und technische Hilfe beim Wiederaufbau des schwer beschädigten Flughafens der afghanischen Hauptstadt Kabul nach dem Abzug der US-Streitkräfte an.

Geplant sind danach Besuche in den drei Afghanistan-Nachbarstaaten Usbekistan, Pakistan und Tadschikistan sowie im arabischen Golfemirat Katar. Dort sitzt das politische Büro der militant-islamistischen Taliban, das als Außenministerium der neuen Machthaber fungiert. Mit diesem führt der deutsche Unterhändler Markus Potzel schon seit Tagen Gespräche über Ausreisefragen. Auch Frankreich diskutiert darüber mit den Taliban.

Müller warnt vor «dramatischer Hungerkrise»

In einer am Sonntag veröffentlichten Erklärung von mehr als 20 Ländern - darunter die USA und Deutschland - hieß es dann, man habe von den Taliban Zusicherungen erhalten, dass «alle ausländischen Staatsangehörigen und alle afghanischen Staatsbürger mit einer Reisegenehmigung aus unseren Ländern sicher und geordnet zu Abflugorten sowie aus dem Land reisen dürfen».

Entwicklungsminister Gerd Müller warnte im «Handelsblatt» von einer «dramatischen Hungerkrise» in Afghanistan. Versorgungswege seien zusammengebrochen, dazu komme die extreme Dürre und die Folgen der Corona-Pandemie. 14 Millionen Menschen seien bedroht, sagte der CSU-Politiker.