Tragödie am Flughafen Vilnius - Experte vermutet: Zwei ganz banale Gründe führten maßgeblich zum DHL-Absturz

Auf diesem Standbild aus einem Video sieht man eine Stichflamme und Rauch aufsteigen nachdem ein DHL-Frachtflugzeug in der Nähe von Vilnius abgestürtzt ist.<span class="copyright">Michael Sohn/Teltonika company/A</span>
Auf diesem Standbild aus einem Video sieht man eine Stichflamme und Rauch aufsteigen nachdem ein DHL-Frachtflugzeug in der Nähe von Vilnius abgestürtzt ist.Michael Sohn/Teltonika company/A

Drei Tage nach dem Absturz eines DHL-Frachtflugzeugs in Vilnius verdichten sich die Hinweise, dass Kommunikationsfehler sowie nicht eingehaltene Sicherheitsstandards in der Endflugphase zu dem tödlichen Unglück führten. Das beträfe sowohl die deutschen Piloten als auch die litauische Tower-Besatzung, sagte Flugexperte Heinrich Großbongardt gegenüber FOCUS online.

  • Im Video: Funkspruch zwischen Pilot und Tower offenbart, was Sekunden vor Absturz geschah

Gewissheit über die genaue Ursache für den Absturz der Boeing 737-400 des deutschen Paketzusteller DHL am Montagabend in Vilnius, bei dem ein Pilot ums Leben kam, gibt es noch nicht. Doch je mehr Details und Hinweise über die letzten Flugminuten des am selben Abend in Leipzig gestarteten Frachtfliegers an die Öffentlichkeit gelangen, desto klarer erscheint ein Verdacht. „Nicht ein bestimmter Grund hat den Absturz verursacht, sondern mehrere Faktoren, die sich tragisch miteinander verknüpften“, erklärte der renommierte Hamburger Luftfahrtexperte Heinrich Großbongardt am Donnerstag gegenüber FOCUS online. „Das scheint mir mit aller Vorsicht bei dieser Verquickung der Umstände inzwischen ganz gut nachvollziehbar.“

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Der Flug der DHL-Maschine, der in Köln begonnen hatte und über einen Zwischenstopp in Leipzig in die litauische Hauptstadt Vilnius führte, war bis auf bis auf wenige Minuten vor der Landung offenbar problemlos verlaufen. Aus dem, was an Daten über den Flugweg, die Geschwindigkeit und Flughöhe des Unglücks inzwischen bekannt ist sowie dem Funkverkehr zwischen Besatzung und Fluglotsen, ergeben sich für Großbongardt „deutliche Indizien über den Hergang des Unglücks“.

Großbongardt: „DHL-Piloten hätten Landung abbrechen sollen“

„Ein Landeanflug bei Nacht und ohne Bodensicht, bei dem sich die Piloten nur auf ihre Instrumente verlassen müssen, erfordert auch von erfahrenen Piloten volle Konzentration“, erläutert Großbongardt. In dieser Phase gebe es daher verbindliche Vorgaben für Flughöhen und Geschwindigkeiten. Vor allem muss das Flugzeug ab einem bestimmten Punkt stabil auf dem Leitstrahl des Instrumentenlandesystems befinden. „Wenn nicht, dann gilt die Regel, durchzustarten einen neuen Landeanflug zu machen.“ Das sei hier nicht passiert.

Heinrich Großbongardt ist Luftverkehrsexperte aus Hamburg.<span class="copyright">dpa/Gregor Schläger</span>
Heinrich Großbongardt ist Luftverkehrsexperte aus Hamburg.dpa/Gregor Schläger

 

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Doch der Verzicht auf ein rettendes Durchstarten allein habe den Absturz wohl kaum verursacht, so der Flugexperte. Großbongardt nennt als eine weitere Ursache „mehrere Kommunikationsprobleme zwischen Piloten, Lotsen und Tower“. Ein erstes Indiz auf diese Probleme sei gewesen, dass die Fluglotsen in Vilnius zunächst nicht auf die formelle Begrüßung der anfliegenden Boeing reagiert hätten, sondern erst beim zweiten Versuch auf nochmaliges Nachfragen.

Missverständnis könnte zu tragischer Funkpanne geführt haben

Wesentlich folgenschwerer sei das zweite Indiz, das die Übergabe des Gesprächs mit den Piloten von den Fluglotsen, die für den ersten Teil des Anflugs zuständig ist, zum Tower betrifft, der die Freigabe zur Landung erteile. Im Kern geht es dabei um die Übermittelung der UKW-Frequenz des Towers, die aus sechs Ziffern besteht und auf die die Piloten ihren Funkkontakt umschalten müssen.

Um Fehler bei er Übermittlung der sechsziffrigen Frequenz zu verringern, sei es laut Großbongardt „Standard“, nach den ersten drei Ziffern das Wort „decimal“ einzufügen, was englisch für „dezimal“ steht. „Die Piloten scheinen die Funkfrequenz missverstanden zu haben, jedenfalls wiederholten sie statt der richtigen Frequenz 118.205 die Ziffern 118.5. Dieser Fehler bei der üblichen Wiederholung der Frequenz durch die Piloten wurde aber von der Lotsin aus bislang unbekannten Gründen nicht korrigiert.“

Dies habe womöglich zu dem tragischen Umstand geführt, dass die Piloten den Funkverkehr möglicherweise auf eine falsche Frequenz umschalteten. „Die Anfrage auf die finale Erteilung der Landeerlaubnis kam deshalb beim Tower nie an. Das Gleiche gilt für die erteilte Freigabe der Landung vonseiten des Towers, ohne eine Anfrage erhalten zu haben, die von den Piloten nicht gehört worden ist“, schlussfolgert Großbongardt.

Banale mögliche Ursachen: Wolkendecke und Übermüdung

Aus Sicht des Flugexperten reichen aber selbst diese zusätzlichen Fehler nicht zwangsläufig dafür aus, den Absturz zu erklären. Großbongardt geht vielmehr davon aus, dass am Ende „das tragische Zusammentreffen von Anweisungsfehlern der Lotsen mit Hör- und Entscheidungsfehlern der Piloten zusammen mit den vorherrschenden Witterungsbedingungen in Vilnius am Montagabend sowie dem Leistungsstand der beteiligten Protagonisten“ zu dem Unglück geführt habe.

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So sei das Wetter ungünstig gewesen. „Flughafen und Stadt lagen unter einer Wolkendecke versteckt, die sich zwischen 150 bis 250 Meter über dem Boden befand. Die Piloten benötigten sicher drei, vier, fünf Sekunden, sich in dem Lichtermeer zu orientieren, das sich ihnen geboten hat, als sie die untere Kante der Wolkendecke durchstießen. Bei Tempo 250 bleibt da nicht viel Zeit, die richtige Entscheidung zu treffen.“

Als weiteren möglichen Grund, der die Entscheidungskette noch fataler beeinflusst haben könnte, nennt Großbongardt dass die Beteiligten sich am Ende einer Nachtschicht nicht auf der Höhe ihrer mentalen Leistungsfähigkeit befunden haben. „Die Flugzeugcrew war schon eine ganze Weile im Einsatz, und das gilt wohl auch für die Lotsen in Vilnius. Das hat in dieser kritischen Phase wohl kaum geholfen.“ Daran ändere auch nichts, dass sowohl Piloten als auch Lotsen und Tower-Besatzung gezielt für derartige Probleme ausgebildet und trainiert würden.

Auf die Frage, warum die Crew nicht auf die Parameter des instabilen Landeanflugs, die ihr ja anzeigt worden sein müssen, reagiert und wie üblich aus Sicherheitsgründen einen Durchstartvorgang eingeleitet hätte, sagte der Experte: „Vielleicht haben die Piloten gedacht, sie bekämen das noch in den Griff, waren aber aufgrund der Vielzahl der Störfaktoren am Ende mit der Lage überfordert.“