Ein Trend ist schuld - Deutschland hat genug Ärzte - der Grund für den Mangel ist ein ganz anderer

Viele junge Ärzte wollen lieber angestellt und in Teilzeit arbeiten, statt eine eigene Praxis zu eröffnen.<span class="copyright">Julian Stratenschulte/dpa</span>
Viele junge Ärzte wollen lieber angestellt und in Teilzeit arbeiten, statt eine eigene Praxis zu eröffnen.Julian Stratenschulte/dpa

Kaum Termine, lange Wartezeiten, keine Praxen in der Nähe – Deutschlands medizinisches Versorgungssystem bröckelt, heißt es oft. Der Grund sei ein Mangel an Ärzten. Dabei zeigen die Zahlen das Gegenteil. Schuld am gefühlten Ärztemangel ist ein Trend, den es bei vielen Berufstätigen gibt.

Deutschland hat scheinbar von vielem zu wenig – zu wenige Wohnungen, zu wenige Fachkräfte, und auch zu wenig Ärzte. Heißt es zumindest immer. Dabei wächst die Zahl der Mediziner stetig, berichtet die „ Welt “. Seit 1990 habe die Zahl der Ärzte um 65 Prozent zugenommen.

Und auch, wenn man die Zahlen ins Verhältnis zur Bevölkerung insgesamt setzt, zeigt sich kein Mangel. Im Gegenteil. Eine Erhebung im Jahr 2020 ermittelte 4,5 Ärzte pro 1000 Einwohner – rein rechnerisch mehr als ein ganzer Arzt mehr pro 1000 Einwohnern als beispielsweise Kanada oder das Vereinigte Königreich.

Trotzdem reißen die Klagen über schier endlose Wartezeiten, Termine, die allenfalls in Monaten verfügbar sind, und die medizinische Versorgung generell nicht ab. Zum Teil dürfte das auch schlicht dem Umstand geschuldet sein, dass Deutschland überaltert, und allein dadurch das System und die Praxen strapaziert werden.

Jeder dritte Mediziner arbeitet heute in Teilzeit

Es gibt allerdings noch eine andere, einfachere Erklärung, so die „Welt“. Noch 2009 arbeiteten nur 3,8 Prozent der Ärzte in Teilzeit. Aktuell sind es 35,2 Prozent – etwas mehr als jeder dritte Mediziner.

Der Münchner Allgemeinmedizin- und Versorgungsforscher Antonius Schneider hat für den Freistaat errechnet, dass die Zahl geleisteter Stunden bei HNO- und Augenärzten sowie Dermatologen konstant geblieben ist, trotz eines Zuwachses an Ärzten. Bei Hausärzten wiederum ist sie gesunken. Lediglich in Einzelfällen, bei Psychotherapeuten und Internisten, hat der Anstieg der Ärzte letztlich zu steigenden Vollzeitäquivalenten geführt.

Anders gesagt: Weil mehr Ärzte in Teilzeit arbeiten, gibt es in vielen Bereichen rein rechnerisch weniger Vollzeitärzte, obwohl die reine Anzahl an Medizinern immer weiter steigt.

„Die jungen Ärzte sehen es nicht mehr ein, wie ihre Chefs 60 bis 80 Stunden die Woche zu arbeiten“, sagte Schneider zur „Welt“. Noch in den 1990ern hätten Ärzte aufgrund einer Schwemme an Mediziner um Arbeitsplätze gebuhlt. Heute wüssten junge Mediziner, dass sie den Arbeitgeber einfach wechseln können, wenn dieser nicht flexibel genug ist.

Junge Ärzte wollen das sichere Einkommen statt das Risiko der eigenen Praxis

Auch beim Einkommen ziehen die Nachwuchsärzte Sicherheit vor, so Schneider. „Wenn junge Hausärztinnen und Hausärzte die Wahl haben zwischen 180.000 Euro brutto für 50 Arbeitsstunden mit dem Risiko der Selbstständigkeit oder 90.000 Euro für 40 Stunden im Anstellungsverhältnis, werden sich viele für Letzteres entscheiden.“

Generell würden viele Ärzte lieber keine eigene Praxis mehr eröffnen. „Freiberuflichkeit ist nicht mehr so attraktiv“, erklärte der Gesundheitsökonom Stefan Greß von Hochschule Fulda gegenüber der „Welt“. „Junge Ärzte wollen mehr Planungssicherheit, weniger Überstunden und am besten kein ökonomisches Risiko.“

Dabei sei eine eigene Praxis gar kein so großes Risiko, ergänzte Greß: „Die Ärzte müssen zwar einen hohen Kredit aufnehmen, haben wegen der gesetzlich Versicherten aber eine Umsatzgarantie.“ Er habe noch nie erlebt, wie eine Praxis in die Pleite gerutscht ist.

Anderswo arbeiten weniger Ärzte in Teilzeit - weil die Kinderbetreuung besser ist

Statt zwanghaft mehr Ärzte ausbilden zu wollen, müsse der Sektor eher auf die geänderten Ansprüche der Mediziner eingehen. Der Trend hin zur Teilzeitanstellung sei unumkehrbar, sagte der Hamburger Professor für Gesundheitswesen, Jonas Schreyögg, der Zeitung.

„Wir haben genug Ärzte in Deutschland, sogar wenn man diejenigen berücksichtigt, die in Teilzeit arbeiten“, so Schreyögg. Helfen könnten daher etwa größere Praxiseinheiten im ambulanten Sektor – wie auch eine bessere Versorgung bei der Kinderbetreuung. „In Frankreich und in skandinavischen Ländern arbeiten Ärzte auch deswegen seltener in Teilzeit, weil es eine flächendeckende Betreuung für ihre Kinder gibt“, fügte Schreyögg an.

Einfach nur mehr Studienplätze für Medizin anzubieten, so wie es Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) im Frühjahr plante, bringe nicht die gewünschte Wirkung, erklärte indes Versorgungsforscher Schneider. Denn die Fachrichtung dürfe sich der Nachwuchs aussuchen, mit einem absehbaren Ergebnis: „In der Folge haben wir zwar viele Orthopäden und Kardiologen, bei Hausärztinnen und Hausärzten aber weiterhin einen Mangel.“