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Triage in Zeiten von Corona: Wer darf leben, wer muss sterben?

In der Corona-Pandemie droht auch das deutsche Krankheitssystem zu kollabieren. Die Sorge ist groß, dass Ärzte auch hierzulande entscheiden müssen, welche Patienten sie bei der Behandlung bevorzugen sollen. In einer solchen Triage-Situation sollen ein Instrument von sieben medizinischen Gesellschaften helfen.

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In der Coronakrise droht auch den deutschen Medizinern, dass sie über Leben und Tod von Patienten entscheiden müssen. (Bild: Getty Images)

In der aktuellen Corona-Pandemie droht auch das deutsche Gesundheitssystem an seine Grenzen stoßen. Medizinische Ressourcen wie Medikamenten, Intensivbetten und Beatmungsgeräte drohen knapp zu werden. Für Mediziner kann ein solches Szenario zu alptraumhaften Zuständen führen. Denn sie müssten im Extremfall entscheiden, welche Patienten sie bevorzugt behandeln und welche sie vernachlässigen sollen. Diesen Prozess aus Einteilen und Auswählen von Erkrankten oder Verletzten im Falle eines Kapazitätsengpasses bezeichnet man in der Notfall- und Katastrophenmedizin als Triage. In Italien ist der Alptraum längst Wirklichkeit geworden.

Was heißt Triage?

Triage stammt vom französischen Verb "trier", heißt übersetzt so viel wie "sortieren", "aussuchen" oder "auslesen" und hat ihren Ursprung in der Militärmedizin. Zu den historisch ersten Triage-Instrumenten gehört das "Königlich-Preußische Feld-Lazarett-Reglement". Das 1787 von König Friedrich Wilhelm II. 1787 unterzeichnete Dokument schrieb vor, dass Verwundete nach dem Schweregrad ihrer Verletzungen behandelt werden sollten. Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelte der französische Arzt Dominique Jean Larrey mit den so genannten "fliegenden Lazaretten" eine Klassifikationsmethode, mit der verletzte Soldaten noch auf dem Schlachtfeld sortiert und behandelt wurden.

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Vor dem moralischen Dilemma, im Falle einer medizinischen Ressourcenknappheit einen Patienten einem anderen vorzuziehen, können auch zivile Ärzte stehen. Bei Katastrophensituationen wie Großunfällen, Naturkatastrophen, Epidemien und Pandemien dienen ihnen verschiedene Ordnungssysteme als Entscheidungshilfen. Im deutschsprachigen Raum können sich Notfallmediziner zum Beispiel bei einem Großunfall an ein vierstufiges Triage-System orientieren. Dabei bekommen Verwundete eine von vier farblich gekennzeichneten Karten angehängt, die den jeweiligen Verletzungsgrad und die entsprechende Behandlungsdringlichkeit kennzeichnen.

Patient wird nach sechs Kategorien beurteilt

In Notaufnahmen hat sich in Deutschland neben dem Emergency Severity Index das Manchester-Triage-System etabliert. Mit dem Einteilungsinstrument wird ein Patient nach sechs Kategorien beurteilt, "Lebensgefahr", "Bewusstsein", "Blutverlust", "Schmerzen", "Krankheitsdauer" und "Temperatur". Je nach Zustand wird er einer von fünf Dringlichkeitsstufen zugewiesen: sofort, sehr dringend, dringend, normal, nicht dringend. Letztere Einteilung bestimmt zugleich die maximale Wartezeit bis zum Beginn einer ärztlichen Behandlung, angefangen mit 0 Minuten im Falle eines sofort zu behandelnden Patienten bis zu zwei Stunden bei einem "nicht dringenden" Fall.

Wiesbaden, Germany - October 25, 2014: Emergency doctor in charge at casualty collection point (Verletztensammelstelle) during a large mass casualty incident drill with German emergency services in the city center of Wiesbaden.
Auch Notfallmediziner können etwa im Fall von Großunfällen mit einer Triage-Situation konfrontiert sein. (Bild: Getty Images)

Triage in Zeiten von Corona

Vor dem ethischen Problem der Behandlungspriorität stehen Ärzte hierzulande selten. Unser Krankheitssystem ist gut genug ausgestattet, dass alle Patienten eine bestmögliche Behandlung nicht nur verdienen, sondern auch bekommen. Dieser Gleichheitsgrundsatz droht von der Corona-Pandemie jedoch ausgehebelt zu werden, wenn die materiellen und personellen Kapazitäten angesichts der zunehmenden Anzahl von Patienten knapp werden.

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Die Sorge ist groß, dass sich auch in Deutschland das Triage-System durchsetzen könnte, wie es in Italien praktiziert wird. Dort hat die Gesellschaft für Anästhesie, Analgesie, Reanimations- und Intensivmedizin (SIAARTI) Mitte März Richtlinien veröffentlicht, die den Medizinern in der Extremsituation helfen sollen. Im Zentrum stehen zwei Empfehlungen: Erstens sollten jene Patienten bevorzugt behandelt werden, die eine größere Überlebenschance haben. Zweitens gilt es, jene COVID-19-Erkrankten eher zu retten, "die eine höhere Lebenserwartung haben", also die jüngeren vor den älteren.

Triage-System kann gegen Menschenrecht verstoßen

Vor allem der zweite Punkt ist ethisch fragwürdig, da er gegen ein elementares Menschenrecht verstößt, dem gleichen Recht aller Menschen auf Leben und Überleben – unabhängig von Alter und sozialer Herkunft. In Deutschland hat den Grundsatz, dass ein Menschenleben nicht für ein anderes geopfert werden darf, das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2007 noch einmal bekräftigt. Es entschied damals, dass ein von Selbstmordattentätern entführtes Passagierflugzeug selbst dann nicht abgeschossenen werden darf, wenn damit weitaus mehr Menschenleben gerettet würden, als sich im Flugzeug befinden.

Midsection of female doctor helping surgeon wearing surgical glove. Medical colleagues are preparing for surgery. They are standing in emergency room.
Sieben medizinische Gesellschaften haben Richtlinien veröffentlicht, wie sich deutsche Ärzte in einer Triage-Situation verhalten sollten. (Symbolbild: Getty Images)

Wie ist die Situation in Deutschland?

Damit es in deutschen Krankenhäusern in der aktuellen Katastrophensituation nicht zu moralischen Dilemmata kommt, haben sieben medizinische Gesellschaften nun entsprechende Richtlinien herausgebracht. In dem elfseitigen Dokumjent stellen die Experten klar, dass angesichts möglicher knapper Ressourcen "analog der Triage in der Katastrophenmedizin über die Verteilung der begrenzt verfügbaren Ressourcen entschieden werden muss". In dem Fall sei es also "unausweichlich", eine Auswahl zu treffen, welche Patienten intensiv-medizinisch behandelt werden und "welche nicht (oder nicht mehr)".

Sollten deutsche Ärzte eines Tages tatsächlich in eine solchen Situation geraten, dann müssen sie ausschließlich nach Maßgabe klinischer Erfolgsaussichten entscheiden. Als Grundlage dient ihnen ein Kriterienkatalog mit Fragen wie: Hat der Patient eine Vorerkrankung. Leidet er an einer unheilbaren Krankheit? Wie ist der Allgemeinzustand des Patienten? Ist die Therapie aussichtslos? usw.

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In dem Schreiben verweisen die Gesellschaften auch auf das Mehr-Augen-Prinzip. Dieses beruht darauf, dass ein Arzt nicht alleine entscheiden sollte, wie und ob welcher Patient behandelt werden soll. Wenn möglich sollte er dabei von einem Kollegen, ferner einem Vertreter des Pflegepersonals oder anderen Fachleuten assistiert werden.

Richtlinien sind nur Empfehlungen und nicht rechtlich bindend

Die Richtlinien sind weder rechtlich noch moralisch verbindlich. Es handelt sich um Handlungsempfehlungen. Dass sie ausgesprochen wurden, ist dennoch wichtig. Denn sie dienen nicht nur Ärzten als Entscheidungsgrundlage. Sie untermauern auch den Gleichheitsgrundsatz im deutschen Krankheitssystem, der besagt, dass alle Patienten das gleiche Recht auf Behandlung haben – selbst in Ausnahmesituationen wie der aktuellen. Damit sind die Empfehlungen auch als Botschaft an die Alten sowie die Vorerkrankten und die Schwachen zu verstehen. Sie dürften für sie tröstend sein: Ihr Leben ist nicht weniger wert, nur weil sie nicht mehr so lange zu leben haben wie Jungen oder nicht so robust sind wie die Gesunden.

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