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"Tribes of Europa"-Macher ist überzeugt: "Die Pandemie wird junge Leute noch kämpferischer machen"

Philip Koch ist der nächste deutsche Top-Filmkreative, dem Netflix die Chance auf einen Serien-Welterfolg bietet. Seine Dystopie-Serie "Tribes of Europa" handelt von einen zerfallenen, postapokalyptischen Kontinent. Acht Folgen bieten  überdrehte Trash-Science Fiction, die Spaß macht, aber dennoch vor einem ernsten Hintergrund entstand. (Bild: Max von Treu)

Nach "Dark" kommt eine zweite große Science Fiction-Fantasie aus Netflix-Deutschland. Mit "Tribes of Europa" (ab Freitag, 19. Februar) hat Genre-Spezialist Philip Koch ("Picco") eine Serie entwickelt, in der Europa nach einer Katastrophe in zahlreiche archaische Mikrostaaten zerfallen ist.

Nach "Dark" speist Netflix Deutschland eine zweite teuer produzierte Zukunftsvision Made in Germany ins weltweite Streaming-Angebot ein. Philip Koch, 38, ist Autor, Regisseur und Showrunner der Serie "Tribes of Europa" (ab Freitag, 19. Februar). Mit Filmen wie dem knallharten Gefängnisdrama "Picco" oder dem verstörenden Gaming-Film "Play" machte der Münchener auf sich aufmerksam. Auch seine "Tatorte" sorgten für Furore: Im Bremer Fall "Blut" spielte Koch mit der Idee, dass Vampire wirklich existieren könnten. In "Hardcore" aus München untersuchte er sehr abseitig Porno-Praktiken der heftigeren Art. Philip Koch interessiert sich für die Extreme der Gesellschaft. In seiner Netflix-Serie, die von den "Dark"-Produzenten realisiert wurde, leuchtet er ein dystopisches Europa in etwa 50 Jahren aus: Nach einem ominösen Blackout ist der alte Kontinent in zahllose Mikrostaaten zerfallen. Diese "Tribes" kämpfen mit unterschiedlichen Methoden und Gesellschaftssystemen nach Frieden oder Vorherrschaft. Der quietschbunte, überlebensgroße Sechsteiler ist allerdings nur in zweiter Linie ein SciFi-Gesellschaftsdrama. Vor allem ist "Tribes of Europa" große Bubblegum-Unterhaltung mit viel Liebe zum Genre-Kino der Marke "Mad Max".

teleschau: Muss man eine Liebe für überzogene Trash-Science Fiction der Marke "Mad Max" mitbringen, um die Netflix-Serie "Tribes of Europa" zu verstehen?

Philip Koch: "Mad Max" würde ich persönlich zwar nicht als "Trash" bezeichnen, eine Vorliebe für alle "Larger-Than-Life-Genres" würde aber zumindest den Zugang erleichtern (lacht). Wer eine realistische Near Future-Geschichte darüber erwartet, wie Europa im Jahr 2074 aussieht, wird vielleicht enttäuscht. "Tribes of Europa" ist auch eine Hommage ans Science Fiction- und Endzeit-Genre, mit vielen Zitaten wie beispielsweise dem "Thunderdome" aus "Mad Max". Trotzdem war der Stein des Anstoßes für die Serie ein politischer. Als überzeugter Europäer hat mich das Brexit-Referendum so schockiert, dass ich eine Serie über das Ende von Europa machen wollte. Ich habe das Konzept dann auch schon 2016 zu Papier gebracht und dem Produzenten Quirin Berg geschickt.

teleschau: Und wie hat der reagiert?

Koch: Er fand es toll, war aber auch der Meinung, dass kein deutscher Sender so etwas finanzieren würde. Weil es einfach zu teuer wäre, all diese Tribes und ihre Welten zu bauen. Das Projekt ruhte dann eine Weile. In dieser Zeit ist jedoch dieser ganze Serien-Boom ins Rollen gekommen. Also hat man sich irgendwann - fast logischerweise - mit Netflix zusammengetan. Was aber nicht heißt, dass man eine solche Serie mittlerweile nicht auch bei einem klassischen Sender machen könnte, denn auch die haben sich weiterentwickelt.

Die Jugend muss sich retten - und vielleicht die Welt (con links): Henriette Confurius, David Ali Rashed und Emilio Sakraya. (Bild: Netflix / Gordon Timpen)
Die Jugend muss sich retten - und vielleicht die Welt (con links): Henriette Confurius, David Ali Rashed und Emilio Sakraya. (Bild: Netflix / Gordon Timpen)

"Wir haben kein 'Bridgerton' der Zukunft daraus gemacht"

teleschau: Das Budget ist eine Sache. Aus Deutschland gab es bisher die Sky-Serie "8 Tage". Darüber hinaus gibt es kaum hiesige Apokalypse-Stoffe. Erlauben wir Deutschen uns den Weltuntergang nicht?

Koch: Das ist kein deutsches, sondern ein europäisches Phänomen. Das postapokalyptische Genre ist hier kaum repräsentiert. Es gibt einen ganz tollen Film, "Hell" von Tim Fehlbaum, der mit mir an der Filmhochschule in München studiert hat. Er hat so etwas schon vor zehn Jahren versucht. Insgesamt gab es jedoch kaum Postapokalypse außerhalb der USA. Das hat natürlich mit der Vermarktung zu tun. Genre interessiert immer nur einen überschaubaren Kreis an Zuschauern. Man muss diesen Kreis weltweit ansprechen, um diese relativ teuren Science Fiction-Erzählungen finanzieren zu können. Grundsätzlich gilt, dass man international vermarkten muss, um Genrefilme erfolgreich zu machen. Auch bei günstigeren Genres als Science Fiction wie zum Beispiel Horror ist das der Fall. Netflix und Co. sind in dieser Hinsicht natürlich ein toller Motor, denn da hat man die sofortige weltweite Vermarktung.

teleschau: Ist es nicht so, dass sich heute mehr Menschen für den Weltuntergang interessieren als früher? Ist die Apokalypse zum Mainstream geworden?

Koch: Ja, auf jeden Fall. Ich würde sagen, es hat mit dem 11. September 2001 begonnen. Danach begann in den 2010er-Jahren weltweit auch der Aufstieg der Rechtspopulisten mit dem Höhepunkt der Trump-Wahl und der Brexit-Entscheidung. Die Klimakrise wurde immer greifbarer. Und dann kam auch noch Corona. Filme oder Serien sind immer ein Seismograph gesellschaftlicher Entwicklungen. Wenn das Unbehagen in der Gesellschaft wächst, wollen die Menschen mehr Stoffe sehen, die beschreiben oder zeigen, wo es hingehen könnte. Wie realistisch oder überhöht das filmische Ergebnis ist, spielt gar keine so große Rolle. Ob einen die gezeigte dystopische Welt interessiert, ist letztendlich eine Frage des persönlichen Geschmacks.

teleschau: Sie haben vor Corona gedreht. Dann lag die Serie aus Gründen, die mit dem Frühjahr-Lockdown zu tun hatten, eine Weile herum. Haben Sie "Tribes of Europa" im Angesicht der Pandemie noch verändert?

Koch: Wir haben sie wegen Corona ein bisschen weniger düster und dafür eskapistischer gemacht. Der Moment des Aufbruchs, der Verrücktheit, auch der Action ist jetzt ein wenig stärker. Wir haben auch mit der Musik gespielt, um das Ganze nicht noch trister als die Realität werden zu lassen. Die Serie hat trotzdem immer noch düstere Anteile, wir haben kein "Bridgerton" der Zukunft daraus gemacht (lacht). Trotzdem muss man tatsächlich aufpassen, dass eine Unterhaltungsserie in dunklen Zeiten nicht zu düster gerät.

Oliver Masucci überzeugt als Han Solo-Wiedergänger in "Tribes of Europa".  (Bild: Netflix/Gordon Timpen)
Oliver Masucci überzeugt als Han Solo-Wiedergänger in "Tribes of Europa". (Bild: Netflix/Gordon Timpen)

"Die Generation Greta Thunbergs besitzt ein sehr feines Gespür"

teleschau: Hand aufs Herz - wie viel haben Sie bei "Mad Max" abgekupfert?

Koch: Abkupfern ist das falsche Wort, denn abkupfern tut nur derjenige, der sein Produkt nicht aus Liebe macht, sondern einen Fremdzweck erfüllen will - oder schlichtweg faul ist. Ich liebe meine Show, genau wie ich das Genre liebe, und wollte "Mad Max" als größtes postapokalyptisches Franchise der Welt definitiv eine kleine Ehrerweisung geben. Daher erinnert unsere "Boj-Arena" natürlich ein wenig an den berühmten "Thunderdome". Für mich ist es eine Liebeserklärung. Aber auch viele andere Filme, Serien oder Videospiele hatten einen großen Einfluss auf mich in der Kreation von "Tribes of Europa". Die ganze Serie ist gespickt mit Pop-Culture Zitaten, und es wird hoffentlich ein wahres Fest für Genre-Nerds, sie alle zu finden.

teleschau: Dystopien sind gerade bei jungen Menschen ungeheuer populär. Serien wie "The 100" verbinden das Teenie-Genre mit der Apokalypse. Woher kommt der Trend?

Koch: Ich glaube, da zeigt sich ein ganz klarer Generationenkonflikt, wie auch in der "Fridays for Future"-Bewegung. Die Jungen haben erkannt, dass die Babyboomer sie in diese Situation, in der wir uns jetzt befinden, hineingeritten haben. Darüber dürfen sie zu Recht sauer sein. Die Generation Greta Thunbergs besitzt ein sehr feines Gespür dafür, dass wir gerade an einem sehr entscheidenden Punkt der Menschheitsgeschichte angekommen sind. Dass wir wirklich schnell handeln und einiges verändern müssen, damit unsere Welt nicht gegen die Wand fährt. Dieses Bewusstsein spiegelt sich auch im Interesse dieser apokalyptischen Stoffe wider.

teleschau: Wie es aussieht, begleitet uns Corona noch etwas länger. Auch Kinder und Jugendliche leben nun schon ein Jahr in dieser neuen Welt. Wie wird die Pandemie gerade diese junge Generation verändern?

Koch: Ich glaube, dass die Pandemie junge Leute zu größeren und entschiedeneren Verfechtern einer Veränderung machen wird. Die Pandemie ist letztlich nichts anderes als die Konsequenz einer ungehemmten Globalisierung, die individuelle wirtschaftliche Interessen stets über das Wohl der Menschheit stellte. Die krasse Erfahrung dieser Pandemie wird die jungen Leute noch kämpferischer machen, denke ich.

Deutsches SciFi-Serienprodukt "Tribes of Europa" bei Netflix: Showrunner Philip Koch mit seinen drei jungen Hauptdarstellern Emilio Sakraya, Henriette Confurius und David Ali Rashed sowie seinem Produzenten Quirin Berg. (Bild: Netflix / Gordon A. Timpen)
Deutsches SciFi-Serienprodukt "Tribes of Europa" bei Netflix: Showrunner Philip Koch mit seinen drei jungen Hauptdarstellern Emilio Sakraya, Henriette Confurius und David Ali Rashed sowie seinem Produzenten Quirin Berg. (Bild: Netflix / Gordon A. Timpen)

"Genrefilme sind ein bisschen wie Psychoanalyse"

teleschau: Sie sind selbst großer Horror- und SciFi-Fan. Waren diese Stoffe für Sie als Jugendlicher eher eine Flucht vor der realen Welt oder eine Beschäftigung mit ihr?

Koch: Horror-, Mystery- oder Science Fiction-Filme sind erst mal Eskapismus. Die Flucht vor dem Realen führt auf Umwegen aber auch zur Beschäftigung mit der tatsächlichen Welt zurück. Manchmal muss man in andere Welten flüchten, um die echte verarbeiten zu können. Bei Märchen - und das ist nun wirklich ein uraltes Genre - funktioniert dieses Prinzip genau so. Genrefilme sind ein bisschen wie Psychoanalyse. Sie sind ein Weg, an Verschüttetes heranzukommen, um es zu bearbeiten und nicht zu verrohen oder krank zu werden.

teleschau: Was waren Ihre prägenden Eskapismus-Erfahrungen als Jugendlicher?

Koch: Der Grund, warum ich überhaupt Regisseur werden wollte, war 1994 "Pulp Fiction". Ich glaube, viele Filmemacher meiner Generation sind ungeheuer von diesem Film geprägt. Nachdem ich "Pulp Fiction" gesehen hatte, sagte ich meinen Eltern, dass ich von Beruf Kultfilm-Regisseur werden will (lacht). Die waren natürlich geschockt. Von den frühen Tarantino-Filmen ging es bei mir weiter zu David Lynch, David Cronenberg und Werner Herzog. Ich bin vor allem ein Kind des amerikanischen Independent-Kinos der 90er-Jahre. Damals gab es Genrefilme zwischen Arthaus, Kultfilm und Mainstream, die aber trotzdem global funktionierten. Das war der sogenannte Mid-Budget-Film, der heute im Kino völlig ausgestorben ist, aber nun eine Renaissance in der Serie erlebt.

teleschau: Sie haben in Bremen den "Tatort: Blut" gedreht, der vom Vampirismus erzählt, und "Hardcore", einen Krimi über die Pornofilm-Szene in München. Wäre so etwas schon vor zehn oder 15 Jahren möglich gewesen?

Koch: Grundsätzlich ist der "Tatort" das wohl interessanteste Fiction-Genre im traditionellen deutschen Fernsehen. Weil man da sehr viel wagen kann - und das vor großem Publikum. Wenn es schlecht läuft, schauen sieben oder acht Millionen zu. Das schaffst du im Kino niemals. Eine bessere Kombination gibt es nicht.

teleschau: Wie wahrscheinlich ist es, dass "Tribes of Europa" fortgesetzt wird - und was haben Sie mit der Serie vor?

Koch: Grundsätzlich hätten wir große Lust auf eine Fortsetzung - aber das hängt natürlich vom Erfolg ab. Wenn man erst mal eine solche Welt gebaut hat, will man sie natürlich erweitern und immer detaillierter erkunden. So wie bei "Game of Thrones". Wir erzählen in der ersten Staffel von vier Tribes, doch am Ende werden zwei neue kurz eingeführt. Natürlich ist das ein Hinweis darauf, dass wir Lust haben weiterzumachen (lacht).

Melika Foroutan als Crow-Anführerin Varwara - es ist die beeindruckendste Rolle der sechsteiligen Netflix-Serie "Tribes of Europa". (Bild: )
Melika Foroutan als Crow-Anführerin Varwara - es ist die beeindruckendste Rolle der sechsteiligen Netflix-Serie "Tribes of Europa". (Bild: )