Trotz mauer Konjunkturaussichten - Warum der Arbeitsmarkt so stabil ist – und wer sich dennoch um den Job sorgen muss
Beinahe Tag für Tag mehren sich die Anzeichen einer Konjunkturdelle, womöglich gar einer Rezession in Deutschland. Der Arbeitsmarkt zeigt sich indes erstaunlich stabil. Was dahintersteckt, erklärt der renommierte Arbeitsmarktforscher Sebastian Dullien.
Wenn große Konzerne Stellen abbauen, scheint es immer so, als verliere gleich eine ganze Kleinstadt ihren Job. Der Autozulieferer ZF will bis Ende 2028 bis zu 14.000 Stellen streichen.
Volkswagen wiederum will in der Verwaltung 20 Prozent der Personalkosten sparen und bietet Mitarbeitern derzeit Prämien von hunderttausenden Euro, wenn sie freiwillig gehen.
Derartige Programme bekommen schnell den Titel eines „Kahlschlags“, oft ziehen sie sich aber über mehrere Jahre, und Mitarbeiter werden nicht über Nacht auf die Straße gesetzt. Dennoch schüren gerade die Programme in der Autoindustrie – VW und ZF sind dabei nicht alleine – die Furcht um den eigenen Arbeitsplatz.
Tatsache ist, dass sich der „Arbeitsmarkt bisher gut gehalten hat“, wie Sebastian Dullien gegenüber FOCUS online erklärt. Dullien ist Ökonom und Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung.
Wie hoch ist die Arbeitslosigkeit in Deutschland?
Angesichts einer praktischen Stagnation der Wirtschaftsleistung seit Ende 2022 und immer düsteren Aussichten ist die Arbeitslosigkeit in Deutschland in den vergangenen Monaten angestiegen, aber immerhin nur in sehr langsamem Tempo.
Im Monat Juli betrug die Quote der Bundesagentur für Arbeit zufolge 6,0 Prozent – kein unbedingt schöner Wert, aber gemessen an den Durchschnitten der vergangenen Jahre kein gigantischer Ausreißer. Aber: Zuletzt lag die Quote im Mai 2022 unter der Fünf-Prozent-Marke.
Und im europäischen Vergleich?
Eurostat wiederum taxiert die Arbeitslosigkeit in Deutschland im Juni, dem letzten Monat mit voller Datenerhebung, mit 3,4 Prozent deutlich niedriger. Der Grund liegt in der Erhebung – die Statistiker der Europäischen Union nutzen die Definition der Internationalen Arbeitsorganisation ILO, welche beispielsweise eine Person mit nur einer Stunde Erwerbstätigkeit in der Woche bereits nicht mehr als arbeitslos ansieht.
Dennoch zeigt dieser – international vergleichbare – Messwert, dass der deutsche Arbeitsmarkt robust ist. Im Schnitt der EU-27-Länder liegt die Quote bei 6,0 Prozent, und in den übrigen Wirtschafts-Schwergewichten Frankreich, Italien und Spanien liegen die Quoten mit 7,4, 7,0 und 11,5 Prozent teilweise um ein Vielfaches höher.
Viel Bewegung gibt es an den dortigen Arbeitsmärkten ebenfalls nicht. Während die Eurostat-Quote Deutschlands zum Vorjahresmonat um 0,4 Prozentpunkte anstieg, sanken die Quoten der drei anderen Länder um 0,4 bis 0,5 Prozentpunkte. Für die gesamte EU verharrte die Quote indes.
Warum gibt es nicht mehr Arbeitslose?
Dullien sieht vor allem einen Grund für den recht robusten Jobmarkt in der Republik: „Unternehmen ‚horten‘ derzeit Arbeitskräfte. Sie haben in früheren Krisen gelernt, wie schwer es ist, Fachkräfte zu gewinnen, wenn man diese einmal entlassen hat und halten sich deshalb bisher mit Kündigungen zurück.“
Das ist keine Selbstverständlichkeit – und gut für die Arbeitnehmer. „Bei der aktuellen Entwicklung von Produktion und Aufträgen hätte es durchaus bereits mehr Entlassungen geben können“, sagt der Volkswirt.
„Das große Risiko ist, dass bei anhaltender konjunktureller Flaute irgendwann ein Kipppunkt erreicht wird, ab dem die Unternehmen dann doch entlassen, weil sie nicht mehr mit einem baldigen Ende der Stagnation rechnen“, fügt Dullien an. Dann könne es „plötzlich zu einer merklichen Verschlechterung“ am Arbeitsmarkt kommen.
Suchen die Unternehmen noch Arbeitskräfte?
Ohnehin ist die Lage nicht rosig für alle, die einen Job suchen. Viele Firmen hadern mit dem Aufbau von Arbeitsplätzen und Neueinstellungen. Denn seit Mai 2022 – also dem letzten Monat mit weniger als fünf Prozent Arbeitslosenquote – sinkt der sogenannte BA-X-Index der Bundesagentur für Arbeit.
„Der saison- und kalenderbereinigte Indikator bildet die Entwicklung der Arbeitskräftenachfrage am ersten Arbeitsmarkt unabhängig von jahreszeitlichen Einflüssen ab und spiegelt die Einstellungsbereitschaft der Unternehmen wider“, erklärt die Bundesagentur selbst zum BA-X.
Mit 107 Punkten rangiert der Index deutlich unter dem Wert von 138 Zähler vor etwas mehr als zwei Jahren. Zuvor hatte der BA-X im Juli 2018 einen Spitzenwert von 134 Punkten erreicht, ehe er inmitten der Pandemie deutlich einbrach.
Dabei werden beinahe überall weniger Arbeitskräfte gesucht, wie die Bundesagentur selbst im jüngsten Monatsbericht schreibt: „In allen Wirtschaftszweigen – bis auf Energie- und Wasserwirtschaft – ist die gemeldete Arbeitskräftenachfrage im Vergleich zum Vorjahresmonat gesunken und zwar zum Teil in zweistelliger prozentualer Höhe.“
Und die Stellenabbauprogramme?
„Die Berichte über Stellenabbau sind ein Alarmsignal“, sagt Dullien ganz klar, schränkt dann aber ebenso ein: „Die Erfahrung der Vergangenheit hat gezeigt, dass sich solche Ankündigungen nicht eins zu eins in steigender Arbeitslosigkeit niederschlagen.“
Derartige Abbauprogramme werden „üblicherweise über normale Abgänge, etwa zu anderen Unternehmen, oder in den Ruhestand, abgedeckt“. Zudem haben Konzerne früher einen Teil solcher Programme auch wieder zurückgenommen, wenn die Konjunktur wieder an Fahrt aufnahm.
In welchen Branchen müssen Arbeitnehmer wirklich um ihren Job fürchten?
Obwohl der Autobau als Schlüsselindustrie mit seinen ganz eigenen strukturellen Problemen oft im Fokus stehe, erinnert Dullien daran, dass „Umfragen andeuten, dass in vielen Branchen Jobs auf der Kippe stehen könnten“. So würden die Beschäftigungspläne im Bau und im Handel im Saldo signalisieren, dass voraussichtlich Stellen abgebaut werden.
Wer sich insbesondere um seinen Arbeitsplatz fürchten muss, seien zuallererst diejenigen, die ohnehin „in prekären Arbeitsverhältnissen“ beschäftigt seien, sagt Dullien. Und das heißt: „Leiharbeitende, befristet Beschäftigte und Menschen ohne abgeschlossene Ausbildung.“