Trotz Sanktionen - Russlands „dunkle Flotten“: Wie der Kreml Erdgas aus der Arktis schmuggelt
Schrottreife Öltanker, die von indischen Familienvätern in einem Hotel in Dubai gekauft werden und dann im Nordpolarmeer kreisen, sind Russlands Geheimwaffe, um die US-Erdgassanktionen zu umgehen. So funktionieren „dunkle Flotten“.
Nikhil Ganesh Ghorpade ist ein indischer Fotojournalist und wohl der letzte Mensch auf Erden, den man verdächtigen würde, für Russland Erdgas zu schmuggeln. Ghorpade lebt 150 Kilometer südlich der Metropole Mumbai in einem kleinen, spartanisch eingerichteten Apartment. Es gibt ein Sofa, pinke Plastikstühle, ein Kinderfahrrad und die Wände sind mit Kreide bemalt.
Was nach einer simplen Familienbehausung aussieht, ist aber eine der wichtigsten Adressen für Russlands Erdgas-Geschäft. Ghorpade hat unter seinem Namen und dieser Adresse eine Firma namens Ocean Speedstar Solutions angemeldet. Er ist ihr CEO. Ein Freund habe ihn dazu überredet, sagt er Journalisten der Finanznachrichtenagentur Bloomberg , wahrscheinlich gab es auch eine finanzielle Belohnung für den Inder.
Tanker kreist in perfekten Ellipsen über das Meer
Ocean Speedstar Solutions hat wiederum drei Frachter, die unter seiner Fahne über die Weltmeere schippern. Normalerweise würde sich niemand für die interessieren, würden sie nicht ganz eigenartige Routen nehmen. So fuhr der Tanker Pioneer im Juli vom Mittelmeer in die arktische See nördlich von Norwegen. Dort begann er plötzlich, in perfekten Ellipsen und stets gleichbleibender Geschwindigkeit über das Meer zu kreisen. Das erregte Aufsehen.
Satellitenaufnahmen zeigten später, wie der Tanker am 1. August am Terminal Arctic LNG 2 in Russlands Nordpolarmeer anlegte, während er offiziell noch immer Ellipsen Tausende Kilometer entfernt fuhr. Offensichtlich hatte jemand die Transponder-Daten des Tankers gefälscht. Kein Einzelfall: Im August legten auch die Tanker Asya Energy und Everest Energy an Arctic LNG 2 an, während sie offiziell Kreise anderswo im Polarmeer fuhren.
Schrottreife Schiffe im Nordpolarmeer
Alle drei Tanker wiederum wurden im März und April von einer Firma namens „Nur Global Shipping“ gekauft. Die sitzt in Dubai, ihre Geschäftsadresse ist ein Hotel in der Freihandelszone des Emirats. Nurs Webseite wiederum gehört einer Firma namens South Oil Trading, die schon seit 2022 nicht mehr existiert. Und deren Webseite wiederum gehört einer Firma namens Caran Energy, die zwar offiziell auch in Dubai sitzt, deren Webseite aber auch russischen Servern beheimatet ist. Falls sie die ganzen Firmennamen bereits verwirrt haben – das ist Absicht, so soll es auch Ermittlern gehen.
Nur Global Shipping kaufte insgesamt fünf Tanker im Frühjahr auf. Sie wären sonst verschrottet worden. Trotzdem war das Unternehmen bereit, einen Aufschlag von 50 Millionen Dollar je Schiff über dem eigentlichen Marktwert zu zahlen. Die meisten stammen von einem chinesischen Reeder, der sie zuvor in Nordostasien eingesetzt hatte. Der heftige Preisaufschlag dürfte ein Bonus dafür sein, dass die Chinesen darüber schweigen, wofür die Schiffe jetzt eingesetzt werden.
Russlands Flüssiggas-Terminal soll Weltmarkt sichern
Ziel all dieser Heimlichtuerei ist es, Erdgas aus besagtem Terminal Arctic LNG 2 zu exportieren. Zwar ist Russlands Ölgeschäft unter US-Sanktionen gestellt, das Erdgasgeschäft aber nicht prinzipiell. Nur von diesem einen Terminal darf Russland nichts exportieren. Normale Reeder weigern sich entsprechend auch, dort Geschäfte mit dem Kreml zu machen.
Arctic LNG 2 soll eigentlich die Zukunft des russischen Erdgashandels werden. Nachdem das Pipeline-Geschäft mit Europa auf absehbare Zeit gestorben ist, bleibt nur der Export von flüssigem Erdgas nach Asien. Dafür muss das Erdgas eben verflüssigt werden, was in Gydan, wo Arctic LNG 2 steht, massenhaft möglich ist. Drei Terminals können hier 19,8 Millionen Tonnen pro Jahr liefern. Das wäre das viertgrößte Projekt der Welt. Ursprünglich baute die russische Firma Novatek die Terminals zusammen mit dem Total-Konzern, doch nach den US-Sanktionen Ende November 2023 zogen sich die Franzosen zurück.
40 Prozent Nachlass auf den üblichen Preis
Das Erdgas aus Gydan wird mit den Tankern nach Asien exportiert, hauptsächlich nach China und Indien über die Routen im Nordpolarmeer. Indien bestätigt das nur indirekt, man beteilige sich nicht an einseitigen Sanktionen wie denen der USA. Bisher haben die fünf Schiffe, die Nur Global Shipping kaufte, im August je einmal ihre Laderäume in Gydan vollgeladen. Verkauft ist bisher aber noch keine Tonne. Zwei Schiffsladungen lagern in einem Tank im Nordmeerhafen von Murmansk, drei weitere schippern noch über das Polarmeer. Die Fahrt ist gefährlich, weil Eisberge drohen.
Außerdem versucht Russland, das Erdgas auf offener See auf nicht-sanktionierte Tanker umzuladen – ebenfalls eine gefährliche Aktion. Damit Käufer überhaupt das Risiko eingehen, sanktioniertes Erdgas aus Russland zu kaufen, bietet der Kreml einen Nachlass von 40 Prozent auf den üblichen Preis.
Russland will seinen Marktanteil auf über 20 Prozent aufstocken
Dabei geht es nicht nur darum, den Krieg in der Ukraine weiter zu finanzieren. Flüssiggas soll auch in einer Zeit nach dem Krieg zum wichtigsten Export des Landes werden. Russland will seinen Marktanteil von derzeit 8 auf über 20 Prozent am Welthandel aufstocken. „Wir werden das trotz aller Knüppel machen, die sie uns zwischen die Beine werfen“, sagt Präsident Wladimir Putin zuletzt beim Eastern Economic Forum in Wladiwostok im Osten Russlands.
Nikhil Ganesh Ghorpade hat von all dem wenig Ahnung. Er gehört zu einem ganzen Netzwerk einfacher Menschen, die Russland als Briefkästen für seine dunklen Flotten nutzt. Zwei weitere Schiffe sind bei einer Firma namens Plio Energy Cargo Shipping registriert. Ihr CEO ist Karishma Amit Pawar – in einer simplen Familienwohnung unweit vom Mumbai.