TV-Koch-Pionier rechnet ab: "Wir sind die Billigfresser der Welt"

Billigfleisch, Nutri-Score, Tierhaltung: Gesunde und nachhaltige Ernährung ist aktuell in aller Munde. Doch was sagt eigentlich Fernsehkoch Rainer Sass dazu? Zu seinem Jubiläumstag spricht der 66-Jährige kritisch über die Deutschen und ihr Ess- und Konsumverhalten.

Seit 35 Jahren präsentiert Rainer Sass nun schon in seiner lockeren norddeutschen Art seine Gerichte und Rezepte - anfangs noch im Radio, daraus entwickelte sich eine langjährige Fernsehkarriere. Zu seinem Jubiläumstag am 24. Juni spricht der 66-Jährige über die Kochlust der Deutschen - und nimmt dabei kein Blatt vor den Mund. Rainer Sass serviert Tacheles: Was bemängelt er an den heutigen Kochshows? Was wirft er seinen Fernsehkoch-Kollegen vor? Und warum sind die Deutschen die "Billigfresser der Welt"? In Zeiten von Schlachthofskandalen und Billigfleisch-Debatte könnte das Gespräch kaum besser passen. Wer den meinungsstarken Niedersachsen in seinem Element erleben will, schaltet sonntags, 16.30 Uhr, die NDR-Sendung "Sass: So isst der Norden" ein.

teleschau: Vor 35 Jahren traten Sie erstmals im NDR-Radio auf, daraus entstand Ihre Fernsehtätigkeit. Wie haben sich Kochshows im Laufe dieser Zeit entwickelt?

Rainer Sass: Damals gingen die Kochshows erst langsam los, mit Alfons Schuhbeck, Johann Lafer und Alfred Biolek. Heute haben Kochshows einen ganz anderen Charakter. Sie sind schneller geworden, außerdem muss immer gerätselt und etwas gewonnen werden. Es muss immer eine Jury dabei sein und ein Spiel gemacht werden. Ich bin dabei geblieben, Essen und Trinken in den Kochbeiträgen immer eine hohe Priorität einzuräumen. Und das mache ich immer noch. Meiner Meinung nach werden Essen und Trinken in den neuen Shows zu wenig behandelt, da ist der Showeffekt erheblicher.

teleschau: Woran liegt das?

Sass: Die Leute wollen unterhalten werden. Sie wollen Kochen, gemischt mit Spiel und Spaß. Wir sind nicht die Kochnation der Welt, die Deutschen müssen an den Herd gezogen oder gelockt werden. Das schaffe ich zwar immer noch mit regionaler Küche und nachvollziehbaren Gerichten, aber die meisten wollen irgendetwas gewinnen oder spielen, es muss immer etwas passieren.

teleschau: Aber ist die deutsche Küche wirklich so fantasielos, wie es ihr nachgesagt wird?

Sass: Eigentlich nicht. Wir haben ja alles, wir haben gute Produkte. Aber wir haben auch ein Problem: Der Deutsche gibt kein Geld für Essen und Trinken aus. Deutlich weniger als der Italiener, der Franzose und der Spanier. Wir sind die Billigfresser der Welt. Es wird schon gemunkelt, dass wir keine 1A-Qualitätsware mehr bekommen, weil wir die sowieso nicht bezahlen. Dafür kaufen wir die teuersten Küchen und Geräte, das teuerste Geschirr und die teuerste Ausstattung, alles hochglanzpoliert für 35.000 Euro für zwei Personen - und dazu ein Billigkotelett.

"Eigentlich sind wir nur Urlaubsfahrer und Autokäufer"

teleschau: Wie auch beim Grillen ...

Sass: Richtig. Wir sind Grillweltmeister nach Amerika. Ein Weber-Grill oder ein Monolith-Grill kosten viel Geld, und dann wird ein Billigkotelett von Tönnies für 1,99 Euro darauf gebraten. Im letzten Jahr war Blumenkohl teurer als ein Kilo Nackensteak. Das versuche ich ein bisschen einzudämmen und zu sagen: "Versucht doch mal Blumenkohl als Salat. Versucht einen Spitzkohl anders. Esst mal ein gutes Stück Fleisch und nicht immer nur in Massen." Wir haben immer noch ein bisschen diesen Nachkriegs-Appetit. Wir denken, wir müssen satt sein bis obenhin und platzen. Aber das ist Gott sei Dank in den letzten Jahren besser geworden. Vegan und vegetarisch setzen sich immer mehr durch, das gehört inzwischen zur deutschen Küche.

teleschau: Aktuell wird viel über nachhaltigere und gesündere Ernährung diskutiert. Die Billigfleischproduktion steht in der Kritik. Parallel wird der Nutri-Score zur Nährwertkennzeichnung von Lebensmitteln langsam eingeführt. Wie beurteilen Sie solche Entwicklungen?

Sass: Das ist sehr positiv. Die Leute machen sich Gedanken und merken, dass sie nicht jeden Tag Fleisch essen müssen. Sie überlegen, wie Quinoa geht, was man mit Linsen alles machen kann, was man alternativ aufs Brot schmieren kann. Das hat in den letzten Jahren zugenommen. Auch die "Ernährungs-Docs", die überall auf den Kanälen ausgestrahlt werden, haben ihren Teil dazu beigetragen. Dieses Angebot nehmen die Leute gerne an. Ich merke das schon.

teleschau: Inwiefern?

Sass: Nur so als Beispiel: Wir senden 50 Mal im Jahr "DAS!", das Abendmagazin des Norddeutschen Rundfunks. Im letzten Jahr habe ich nur etwa 15-mal Fleisch zubereitet, in den restlichen Sendungen Fisch und Gemüse. Man muss die Leute ranführen. Nur beim Fisch verlieren wir manchmal an Quote, weil die Leute Angst vor Fisch haben. Sie wissen oft nicht, wie sie ihn auseinandernehmen können. Da haben wir Fernsehköche immer noch viel zu tun. Viele Fernsehköche, die gerne mal Ein-Sterne-Koch-Gerichte gezeigt haben, machen inzwischen wieder normales Essen. Mich hat man vor Jahren komisch angeguckt, wenn ich mit meiner Senfeier-Küche ankam. Heute achten die Sterneköche bei "Kerners Köche" auf einmal alle auf regionale Bio-Produkte. Das habe ich schon vor 35 Jahren gemacht.

teleschau: Den Nutri-Score gibt es bereits seit ein paar Jahren in anderen Ländern, zum Beispiel Frankreich und Großbritannien. Warum dauert es so lange, bis Deutschland nachzieht?

Sass: Bei uns dauert immer alles länger. Deutschland ist einfach zu traditionell und wartet zu lange. Man sagt immer, die Deutschen sind Dichter und Denker. Aber eigentlich sind wir nur Urlaubsfahrer und Autokäufer, und die Hauptsache ist, wir haben ein eigenes Haus. Aber trotzdem interessiert es uns, wenn andere Länder mit ihren Kochtechniken weiter vorne sind. Aufgrunddessen haben wir so viele Kochshows im deutschen Fernsehen, weil das Interesse schon da ist.

"Einige Kollegen von mir haben teilweise ein irrsinniges Rezepte-Latein"

teleschau: Wie macht sich Deutschland aktuell bezüglich Qualität und Nachhaltigkeit der Lebensmittel?

Sass: Die Nachhaltigkeit wird immer besser. Der Biomarkt hat sich in den letzten Jahren gewaltig entwickelt. Das hat auch damit zu tun, dass immer mehr Bauern eine Selbstvermarktung betreiben, sodass wir besseres Gemüse bekommen als in den Großmarkthallen. Außerdem verhalten sich inzwischen viele Leute nachhaltiger, indem sie selbst ein bisschen etwas anbauen. Besonders in der Coronakrise haben viele Lust bekommen, selbst Gemüse und Kräuter anzubauen, oder sogar eigene Hühner zu haben. Das finden die Deutschen langsam immer besser.

teleschau: In der Coronakrise hat man auch gemerkt, dass die Leute mehr Zeit zum Kochen haben ...

Sass: Am Anfang habe ich eine Mittagssendung von 12.00 Uhr bis 12.20 Uhr mit zwei Gerichten gemacht. Mittags ist es eigentlich schwer, die Leute an die Geräte zu holen, aber wir hatten tatsächlich erhebliche Nachfragen, das lief wie verrückt. Junge Leute, die anfangen zu kochen, müssen wissen, wie Königsberger Klopse oder eine Frikadelle zubereitet werden, oder wie Spargel überbacken wird. Dafür machen wir die Kochshows. Und ich achte zudem darauf, dass man die Zutaten nachkaufen kann, und man sich nicht erst krankschreiben lassen muss, um die Zutaten zu kaufen. Das muss man einigen Kollegen von mir vorwerfen, sie haben teilweise ein irrsinniges Rezepte-Latein.

teleschau: Welche Tipps geben Sie Menschen, die auf Nachhaltigkeit beim Kochen achten wollen?

Sass: Man kann sich langsam neuen Gar-Techniken annähern. Beispielsweise können die Leute weniger Wasser beim Kartoffeln-, Möhren- und Gemüsekochen verwenden, oder beim Anbraten ein gutes Pflanzenöl anstatt Margarine. Außerdem rate ich dazu, ein bisschen Geld für anständige Pfannen auszugeben. Die Leute fahren Autos für 50.000 Euro und kaufen dann Billigpfannen. Dabei ist es wichtig, ein gutes Kochgeschirr zu haben, zum Beispiel ein ordentliches Holzbrett und scharfe Messer.

teleschau: Wie kann man sich Gemüsekochen mit wenig Wasser vorstellen?

Sass: Ich koche Kartoffeln mit Rosmarin, Thymian, Knoblauch und nur ganz wenig Wasser und Olivenöl, und lasse sie darin garen. Diesen Sud stelle ich auf den Tisch. So etwas müssen die Leute erst noch ausprobieren. Da ist noch erheblicher Bedarf, sowohl bei exotischeren Rezepten als auch bei der Ausstattung. Das Problem ist, dass der Deutsche lieber häufig in Billigfleisch investiert anstatt zu einem Schlachter zu gehen und dort nach einem guten Stück Fleisch zu fragen. Ein Stück die Woche und nicht vier. Das ist für mich unbegreiflich. Der Deutsche spart lieber für eine Kreuzfahrt und kauft erst danach vielleicht eine richtige Pfanne. In den großen Coop-Läden in Italien herrscht ein ganz anderes Flair, ein ganz anderes Verhalten und Probieren. Da haben die Leute auch Ahnung und Spaß an gutem Essen. Diese Kultur haben wir nicht, und dafür kämpfen wir Fernsehköche.

"Ich glaube, wir müssen das ganze Jahr so weitermachen"

teleschau: Sie konzentrieren sich in ihrer Show "So isst der Norden" besonders auf Norddeutschland. Was ist der wesentliche Unterschied zwischen der norddeutschen und der süddeutschen Küche?

Sass: Das Ess- und Trinkverhalten im Norden und im Süden von Deutschland ist wie Tag und Nacht. Der Unterschied wird schon nach Kassel deutlich. Nach Kassel kriegt man bereits andere Salate. Außerdem haben die Leute im Süden ein ganz anderes Empfinden und geben mehr Geld aus für Essen und Trinken, vor allem in Bayern. Das Münchner Oktoberfest beispielsweise findet zwar dieses Jahr nicht statt, aber dort steht nicht nur Betrinken oder Saufen an der Tagesordnung, sondern auch die Esskultur. Ich bin Verfechter des Oktoberfests. Alles wird frisch gekocht, und es gibt zertifizierte Biohähnchen, die viele Monate eingefroren werden.

teleschau: Ende März startete ihre Sendung "Der Norden bleibt zu Hause und kocht - mit Rainer Sass" - Sie konnten also in der Coronazeit auch weiterhin arbeiten. Wie hat sich die Pandemie auf den Beruf des Kochs ausgewirkt?

Sass: Menschen, die ein Restaurant haben, mit Essen und Trinken handeln oder einen Catering-Service betreiben, denen geht es richtig schlecht. Aktuell haben die Leute Angst, in Restaurants zu gehen. Sie sind noch ängstlich und wissen nicht, wie sie mit Maske, Hände waschen und so weiter umgehen sollen, da ist noch keine Lockerheit drin. Ich glaube, wir müssen das ganze Jahr so weitermachen, bis wir den Impfstoff haben, damit die Leute wieder gerne in ein Restaurant gehen.

teleschau: Was hat sich aus Ihrer Sicht als Fernsehkoch durch die Coronakrise verändert?

Sass: Die Leute haben wieder mehr Interesse an einfachen Sachen. Sie kochen wieder zu Hause mit den Kindern, und es gibt wieder einen Küchentisch, wo sich morgens, mittags und abends die Familie trifft und gemeinsam isst. Außerdem gibt es nun nicht mehr nur noch fette Käseplatten und Leberwurst, sondern vielleicht auch mal leichtgratiniertes Gemüse und so weiter. Das hat Corona geschafft. Und die Leute haben sich mehr mit Wein auseinandergesetzt (lacht). Wir haben ein wahnsinnig gutes Weinangebot in Deutschland und selbst beim Discounter gibt es inzwischen Weine von sehr guter Qualität.

"Hauen Sie einfach mal rein!"

teleschau: Haben Sie einen speziellen Geheimtipp beim Kochen, der anderen Hobbyköchen zu Hause hilfreich sein kann?

Sass: Mehr Mut und mehr Zeit, einfach mal etwas auszuprobieren! Hauen Sie einfach mal rein! Würzen Sie die nächsten Möhren einfach mal mit Kurkuma statt nur mit Sahne, Zitrone und Zucker. Vergessen Sie das dicke Kartoffelgratin, sondern machen nur zwei Schichten in einer größeren Auflaufform, das schmeckt zehnmal besser als zehn Zentimeter hohes Gratin. Man darf nicht denken: "Oh, das geht doch nicht." Man muss einfach machen, und wenn es schmeckt, dann wird das nächste Rezept verändert. Dieser Mut fehlt den Leuten häufig noch.

teleschau: Was sind Ihre absoluten Lieblingsgerichte?

Sass: Im Sommer mache ich gerne irgendetwas mit Melone. Meistens grille ich die Melone, damit sie ein bisschen Röstaroma kriegt. Die Melone einfach auf den Grill werfen und ein Lachstatar dazugeben. Das Lachstatar würze ich nur mit ein bisschen Zitrone, Salz und Pfeffer, ein bisschen Zucker und frischen Basilikum dazu. Dieses Lachstatar dann auf die gegrillte Melone legen. Außerdem mag ich sehr gerne Kartoffelsalat. Jetzt kommen die ersten neuen deutschen Kartoffeln, und die dann mit Gemüse vermischen, nicht immer nur mit Gurke und Mayonnaise, sondern auch mal mit Brühe und anderem Gemüse. Zum Beispiel einfach mal ein Bündel Radieschen und vielleicht gebratenen Fenchel mit Kartoffeln mischen. So etwas mag ich.