TV-Kolumne - 3sat-Reportage „Befreite Brüste“ offenbart ein Gender-Gap der ganz besonderen Art

Eine Frau sitzt in einem Freibad am Beckenrand und bindet sich ihr Bikini-Oberteil zu.<span class="copyright">Monika Skolimowska/dpa</span>
Eine Frau sitzt in einem Freibad am Beckenrand und bindet sich ihr Bikini-Oberteil zu.Monika Skolimowska/dpa

Bikini-Oberteile für den Mann wären die eine Lösung für mehr Geschlechter-Gerechtigkeit im Sommer. Eine andere wäre es, die Asexualität des weiblichen Oberkörpers endlich zu erkennen. Einen steinzeitalten weißen Mann hinterlässt die 3sat-Reportage „Befreite Brüste“ dann doch eher nachdenklich.

Ich bin ein Mann, heterosexuell noch dazu. Ziemlich alt, findet mein Sohn. Weiß bin ich auch, sogar im Sommer. Mann - alt – weiß: Da summieren sich gleich drei Handicaps. Darf ich über Brüste schreiben? Schon beim Wort Nippel stocken die Finger. Glocken? Hupen? Titten? Boobies? Der Macherin der 3sat-Reportage „Befreite Brüste“ gehen die Begriffe ziemlich locker von der Lippe. Ein echtes „Gender-Gap“, wie man neudeutsch einige alte Unterschiede zwischen Männern und Frauen nennt. In diesem Fall: zum Vorteil für die Frau. Es ist nicht das einzige Beispiel.

Politik mit nackten Brüsten

Erinnern wir uns an diese Aktion in Norwegen. Während ihrer Dankesrede in einer öffentlichen Veranstaltung zieht sich die Gleichstellungsministerin das Oberteil hoch und zeigt ihre Brüste. Die Berichterstattung darüber ist wohlwollend. Sogar der Ministerpräsident begrüßt die Aktion– seine Ministerin sei eben „eine sichere, freie und wunderbare Person“.

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Versuchen wir die Szene zu übertragen. Stellen wir uns vor: Bundesverkehrsminister Volker Wissing, ein Politiker von höchst angenehmen Umgangsformen, kultiviert, Organist und Kirchenmusiker, lässt auf einem öffentlichen Podium die Hosen runter. Gut, das ist zu viel, da geht es dann schon an primäre Geschlechtsmerkmale.

Korrigieren wir um zwei Stufen: Der Herr Minister reißt sich öffentlich das Hemd auf und zeigt Kameras und staunendem Publikum seine Brust. Es ist schwer vorstellbar, dass er Anerkennung vom Bundeskanzler ernten würde als „eine sichere, freie und wunderbare Person“. Wahrscheinlicher wäre, dass sehr ernsthafte Zweifel an seiner geistigen Verfassung laut würden. Frau darf, was Mann nicht darf: Gender-Gap eben.

„Anatomisch komplett identisch“

Die 3sat-Reportage „Befreite Brüste“ setzt sich für Gleichheit ein. Sie beginnt mit zwei jungen Frauen, die ohne Oberteil im Freibad planschen. Der Begleittext erinnert an den 8. Juli 2021. Da vermeldet die „Berliner Zeitung“: „Polizeieinsatz wegen nackter Brust!“ Eine Berlinerin hatte sich geweigert, aus ihrem Oben-ohne ein Oben-mit zu machen. Die Polizisten warfen sie aus dem Bad. Sie zog vor Gericht. 2023 bekam sie recht. Badeordnungen mussten geändert werden.

Die 3sat-Reportage ist ein Plädoyer für Freiheit, Gleichheit, Schwesterlichkeit. „Die Brüste von weiblichen und männlichen Menschen sind anatomisch komplett identisch“, versichert Mandy Mangler, Professorin für Frauengesundheit und Geburtshilfe. Und schon stellt die 3sat-Sprecherin die drängende Frage: „Warum gibt es dann keine Vorschriften für Männer, Bikini-Oberteile zu tragen?“

Der Busen – ein „verschobener Hintern“?

Die Fernsehbilder zeigen die Initiative „Gleiche Brust für Alle“ in Dresden. Da bouldern Frauen in der Kletterhalle oben ohne. Eine Mit-Kletterin erklärt: „Körper per se sind nichts Sexuelles.“ Es geht um das Thema Zensur in den sozialen Medien. 2008 hatten stillende Mütter protestiert, dass ihre Fotos von Facebook gelöscht wurden.

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Seit 2014 unterstützen prominente Frauen die weitergehende Aktion #freethenipple. Der Zuschauer erfährt, dass bei den meisten Frauen die rechte Brust etwas kleiner ist als die linke. Und er lernt verschiedene Theorien kennen, warum die weibliche Brust vielleicht doch „etwas Sexuelles“ hat. Da gibt es den Erfolgsautor Desmond Morris und seine Idee vom „verschobenen Hintern“.

Mit dem Erlernen des aufrechten Ganges habe die Menschheit die Backen an neuer Stelle als sexuellen Anreiz gebraucht. Oder die pragmatische These: viel Brust heißt viel Milch, heißt erfolgreiche Aufzucht des Nachwuchses. Oder die Eiszeit-Erklärung: Eine größere Brust spricht für einen höheren Körperfett-Anteil – und Frauen mit mehr Fetteinlagerungen gebären in einem kalten Klima widerstandsfähigere Babys.

Wer in, um das noch einmal zu zitieren, „Glocken, Hupen, Titten, Boobies“ doch etwas Sexuelles sieht, hat also nur seinen inneren Neandertaler noch nicht überwunden?  Es scheint so bei diesem 3sat-Kampf für die Gleichbehandlung von männlicher und weiblicher als asexuelle Brust.

Und dann der Satz, den wirklich nur eine Frau sagen darf

Was mich als steinzeitalten weißen Mann dann doch zweifeln lässt? Da gibt es Verstörendes aus der Statistik, das nicht so recht ins gleichgestellte Bild passt. Die Zahl der Schönheitsoperationen ist in fünf Jahren um 58 Prozent gestiegen. Auf Platz zwei liegt gleich nach den Fettabsaugungen die Brustvergrößerung, dicht gefolgt von der Bruststraffung auf Platz fünf.

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Könnte also gut sein, dass nicht jede Frau von der Asexualität der weiblichen Brust überzeugt ist und die Chirurgie als Investition ins eigene Körpergefühl, aber möglicherweise auch in ihre sexuelle Attraktivität versteht.

Und dann gibt es in der 3sat-Reportage auch noch die Sexologin Jana Welch. „Es ist ganz wichtig zu wissen, dass jede Brust das Potenzial hat, supererregbar zu sein. Je öfter man die Nippel stimuliert, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie auch beim Orgasmus eine große Rolle spielen können“, versichert die Sexualtherapeutin.

Und dann fügt sie zum Thema Schönheitsoperation an den Brüsten noch hinzu: „Da braucht es viele, viele Berührungen – es ist nicht so, dass man, wenn man sich da einen Ferrari hingebaut hat, den auch fahren kann.“ Aber das ist nun ein Satz, den wirklich nur eine Frau sagen kann. Gender-Gap eben.