TV-Kolumne „Die Ausländerbehörde“ - Nach dem Solingen-Anschlag entwickelt NDR-Doku eine ganz eigene Brisanz

Nach der Messerattacke in Solingen mit drei Todesopfern sieht die Gewerkschaft eine massive Mehrbelastung der Polizei.<span class="copyright">Christoph Reichwein/dpa</span>
Nach der Messerattacke in Solingen mit drei Todesopfern sieht die Gewerkschaft eine massive Mehrbelastung der Polizei.Christoph Reichwein/dpa

Sie gilt als „Nadelöhr nach Deutschland“ - doch nach Solingen, Mannheim und Frankfurt wächst die Sorge, dass die Ausländerbehörde längst kein Türsteher mehr ist, sondern eher ein Toröffner für gefährliche Migranten. Wie konnte es so weit kommen?

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Der Syrer Issa al H. hatte im Dezember 2022 in Paderborn einen Asylantrag gestellt. Da er aber über Bulgarien eingereist war, sollte der junge Mann zunächst auch wieder dorthin zurückgebracht werden.

Die Überstellung scheiterte, da al H. abtauchte. Dafür belohnte ihn der deutsche Staat mit dem sogenannten „subsidiären Schutz“, der dem Syrer erlaubte, in Deutschland zu bleiben. Issa al H. kam schließlich nach Solingen. Und tötete dort vergangenen Freitag drei Menschen.

Das Attentat von Solingen ist der tragische Beleg dafür, dass etwas grundlegend falsch läuft in Umgang Deutschlands mit Asylsuchenden.

Wie kann es sein, dass Fachkräfte, die von der Wirtschaft händeringend gesucht werden, an bürokratischen Hürden scheitern? Wieso müssen mitunter Menschen, die seit Jahrzehnten in Deutschland leben und Steuern zahlen, in eine Heimat zurückkehren, die ihnen fremd ist? Und wieso können Männer wie der mutmaßliche Attentäter von Solingen in Deutschland bleiben und sich hier unbemerkt radikalisieren?

Wenn unsere vielen Behörden all das nicht nur nicht verhindern können, sondern sogar erst ermöglichen, dann muss das Asyl- und Einwanderungssystem dringend reformiert werden.

Das „Nadelöhr nach Deutschland“: In Wahrheit ein Scheunentor?

Die Redaktion von NDR Story wollte in ihrer Dokumentation „Die Ausländerbehörde“ (abrufbar in der ARD-Mediathek) lediglich einen Schlüssellochblick in die Behörde ermöglichen, die allgemein als „Nadelöhr nach Deutschland“, als Gatekeeper der Nation gilt.

Mit der Tat von Solingen hat die Doku eine ganz eigene Brisanz entwickelt: Kann die Ausländerbehörde angesichts der wachsenden Flüchtlingszahlen noch ihrer Selektionsfunktion nachkommen? Oder verwaltet man dort nur noch den Wahnsinn?

90 Ausländerbehörden in Norddeutschland hatte der NDR für den Report angefragt, doch nur wenige wollten einen Kamerablick ins Innere gestatten. Eine von ihnen: die Ausländerbehörde der Stadt Hannover.

Als „Willkommensservice“ gegenüber den Neuankömmlingen bezeichnet der Leiter den Job seines Centers, und das sei ernst gemeint, betont er – wohl wissend, dass die Willkommenskultur im Lande seit 2015 ziemlich gelitten hat.

Die Zahl der Paragraphen wächst mit der Zahl der Migranten

Wer in Hannover willkommen geheißen wird, muss Geduld mitbringen. Viel mehr als „Fließbandarbeit“ sei nicht möglich, sagt die Dame am Empfang angesichts der Warteschlange vor ihrem Schalter.

Ausländerbehörden haben seit vielen Jahren zu wenig Personal für immer mehr Fälle, jede fünfte Planstelle ist unbesetzt. So etwas wie einen leeren Schreibtisch kennen die Mitarbeitenden der Behörde nicht.

Doch nicht nur die Zahl der Kunden wächst – auch das Reglement wuchert. Als Reaktion auf Straftaten durch längst abgelehnte, aber niemals abgeschobene Ausländer hat die Politik das „Rückführungsverbesserungsgesetz“ aus der Taufe gehoben – quasi das Gegenstück zum „Fachkräfteeinwanderungsgesetz“.

Ziel ist, pro Jahr 600 zusätzliche Abschiebungen zu ermöglichen. Das entspricht im Vergleich zu 2023 einem Plus von – Tusch! – vier Prozent.

„Sobald einer weg ist, kommt der nächste nach“

In der Ausländerbehörde von Hannover ist Herr Fredrich einer derjenigen, die dieses Gesetz in der Praxis umsetzen müssen. Doch selbst er hält es für „relativ unrealistisch“, dass es durch das Rückführungsverbesserungsgesetz spürbare Verbesserungen gibt. Wenn ein bürokratisches System nicht mehr funktioniert, ist „mehr Bürokratie“ selten die Lösung.

2023 wurden rund 16.000 Menschen aus Deutschland abgeschoben. Eine Zahl, die noch einmal an Bedeutung verliert angesichts der Tatsache, dass in dem gleichen Zeitraum circa 32.000 geplante Abschiebungen scheiterten.

Woran liegt das? Meistens daran, dass das System einfach zu große Lücken hat. Etwa, wenn Menschen ohne Pass nach Deutschland kommen. Oder wenn die gesuchte Person schlicht nicht zu Hause ist, wenn das Abschiebekommando klingelt. Der mutmaßliche Täter von Solingen entging so seiner Rückführung nach Syrien.

Doch selbst wenn man Lücken wie diese schließen würde, wäre jede erfolgreiche Abschiebung laut Fredrich nichts weiter als der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein: „Sobald einer weg ist, kommt der nächste nach.“

Das zahnlose Bürokratiemonster

Vielleicht liegt der Ursprung des Asylwahnsinns tatsächlich in dem Paradigmenwechsel, den Deutschland in der Asylpolitik vollzogen hat. „Ursprünglich ging es darum, die Tür einen Spalt weit aufzumachen und Fachkräfte selektiv durchzulassen“, erklärt der Leiter der Ausländerbehörde in Hannover.

Nun aber sei der Ansatz dergestalt, die Tür durchgehend offenzuhalten – und während des Hereinströmens zu prüfen, wen man denn tatsächlich haben wolle.

Auch wenn das mancher nicht gerne hört: Deutschland ist ein Einwanderungsland, mehr als 14 Millionen Menschen aus Drittstaaten leben mittlerweile hier. Viele von ihnen benötigen wir – Stichwort Fachkräftemangel, Stichwort Überalterung der Gesellschaft.

Wie aber trennen wir bei den Menschen, die an unsere Tür klopfen, möglichst früh die Spreu vom Weizen? Das Aufenthaltsgesetz hat aktuell 107 Paragraphen, hinzu kommen Kommentare, Anwendungshinweise, Verwaltungsvorschriften.

Deutschland glaubt, das Problemfeld Einwanderung mit einem Bürokratiemonster kontrollieren zu können. Solingen hat ein weiteres Mal gezeigt, dass dieser Ansatz gescheitert ist.