TV-Kolumne - Der Harris-Hype: „Wir müssen für Trump beten“, unkt ihr Mentor schon

Laut Wahlprogramm ist Kamala Harris der Meinung, dass Entscheidungen über die reproduktive Gesundheit von Frauen mit ihren Ärzten getroffen werden sollten und nicht von Politikern. Die Demokraten verlangen ein Recht der Frau auf medizinische Notfallversorgung sowie die Verteidigung und Ausweitung des Zugangs zu medikamentöser Abtreibung.<span class="copyright">Getty Images / AFP / Dominic Gwinn</span>

In den USA führt die Euphorie um Kamala Harris vor, wie groß die Sehnsucht der Menschen aktuell nach politischen Hoffnungsträgern ist. Fakten, Inhalte und Details? Stören dabei nur.

Wer den viertägigen Parteitag der US-Demokraten in der vergangenen Woche verfolgt hat, der staunte nicht schlecht: War das wirklich noch die gleiche Partei, die mit nahezu masochistischer Disziplin an dem altersmüden Joe Biden als Präsidentschaftsanwärter festgehalten hatte und gleich ihm mit jedem weiteren Tag immer noch hilf- und hoffnungsloser wirkte? Mit dem Ausstieg Bidens bekamen die Demokraten nicht nur eine deutlich jüngere Kandidatin, sondern entstiegen offenbar selbst einem Jungbrunnen: Die Zukunft war zurück.

Kamala Harris ist derzeitdie politische Figur, auf der wohl die meisten Hoffnungen ruhen – und das nicht allein in den USA. In ihrer Antrittsrede auf dem Parteitag der Demokraten versprach die Präsidentschaftskandidatin, beim Einzug ins Weiße Haus die Spaltung des Landes zu überwinden, das Einwanderungssystem zu reformieren, die Wohnungsnot zu beenden und die Gesundheitsversorgung zu verbessern. Hätte Harris angekündigt, als erste schwarze US-Präsidentin künftig auch übers Wasser zu wandeln – auch das hätten die Demokraten ihr wohl jubelnd abgekauft.

Ist die Kamala Harris von 2024 tatsächlich dieselbe Frau, die in den vergangenen Jahren in der Regel hinter US-Präsident Joe Biden ging oder stand? Die innenpolitisch an der Flüchtlingsfrage scheiterte und bei ihren wenigen internationalen Auftritte einen bestenfalls nichtssagenden Eindruck hinterließ? Harris selbst scheint in diesen Tagen, getragen von einer immensen Welle der Euphorie, wie befreit von der Vergangenheit.

Straftäter gegen Staatsanwältin – was für eine Kombi!

In der ZDF-Zeit-Dokumentation „Kamala Harris – Die erste Frau im Weißen Haus?“ skizzieren US-Korrespondent Elmar Theveßen und Reporterin Steffanie Riess ein 45-Minuten-Porträt der Frau, die beinahe aus dem Stand eine lethargischen Partei in jubelnde Groupies verwandelte. Die beiden Filmemacher suchen nach Antworten: Was ist das Geheimnis dieser plötzlichen Quasi-Heiligsprechung von Harris?

Ex-Außenminister Sigmar Gabriel sieht Harris‘ rasanten Aufstieg von der blassen Vizepräsidentin hin zur Jeanne d’Arc der Demokraten vor allem darin begründet, dass sie all das ist, was der Republikaner Donald Trump nicht ist. Jüngere schwarze Frau gegen alten weißen Mann, verurteilten Straftäter gegen Staatsanwältin – dies sei „die perfekte Profilbildung auf beiden Seiten“ und eine Freude für jeden Wahlkämpfer.

„Wir müssen für Herrn Trump beten!“

Wolfgang Ischinger, einst deutscher Botschafter in Washington D.C., freut sich über ein „gewisses Kopfkratzen“ im Trump-Lager nach Bidens Ausstieg und Harris‘ Nominierung – „das finde ich wahnsinnig spannend“. Auf dem Parteitag der Demokraten traten bereits mehrere Republikaner auf, die sich öffentlich hinter Harris stellen, um eine zweite Runde mit Donald Trump im Weißen Haus irgendwie zu verhindern. Für Trump scheint die Lage inzwischen so prekär, dass Amos Brown, Mentor und Pastor von Kamala Harris, sogar glaubt: „Wir müssen für Herrn Trump beten!"

Noch weiß allerdings kaum jemand, was tatsächlich zu erwarten ist von einer Präsidentin Kamala Harris. Vermutlich ist genau das aktuell ihr Glück: Solange nichts Konkretes im Wahlprogramm steht, kann dort jeder seine ganz persönliche Wunschliste herauslesen. Doch zugleich steigt dadurch die Gefahr, dass auf den Harris-Hype schon bald der Kamala-Kater folgt.

Demokratie braucht Hoffnung: Zur Urne geht nur, wer sich von den Volksvertretern an der Spitze eines Landes bestimmte Verbesserungen erwartet. Es war das Prinzip Hoffnung, das US-Präsident Barack Obama nach nur neun Monaten im Amt den Friedensnobelpreis einbrachte. Den meisten Harris-Anhängern reiche bereits das Gefühl, „dass sie es besser machen würde als zwei alte weiße Männer“, bilanziert Elmar Theveßen etwas hilflos. Sätze wie dieser sind ein Offenbarungseid für die politische Lage, ob in den USA oder im Osten Deutschlands: Heute muss offenbar niemand mehr etwas sein, um gehypt zu werden. Es reicht bereits aus, etwas nicht zu sein.