TV-Kolumne „Kampf um die Zukunft“ - Landlust statt Wohnfrust? Eine ZDF-Doku zerstört das Luftschloss der Bauministerin
Die Empfehlung, aufs Land zu ziehen, sollte die verfehlte Baupolitik von Ministerin Klara Geywitz kaschieren. Doch die Gemeinden haben ihre eigenen Probleme. Eine WISO-Reportage räumt mit der Vorstellung vom glücklichen Leben fernab der Stadt auf.
Keine Herberge in Deutschlands Großstädten? Die Lösung dieses Problems ist für Bauministerin Klara Geywitz ein Leichtes, denn: „Knapp zwei Millionen Wohnungen in Deutschland stehen leer“, rechnete die SPD-Politikerin Ende Juli vor.
Leider befinden sich diese Immobilien nicht in den Städten, sondern vor allem auf dem Land. Also dort, wo die Arbeitsplätze tendenziell nicht (mehr) sind. Für Geywitz ist auch das kein Problem:
„Homeoffice und Digitalisierung bieten inzwischen ganz neue Möglichkeiten für das Leben und Arbeiten im ländlichen Raum“, verriet die Ministerin der „Neuen Osnabrücker Zeitung“.
Jenseits der Berliner Politblase – genauer gesagt: etwas südlich von Potsdam – liegt Wiesenburg/Mark: eine aus 14 Dörfern bestehende Gemeinde in Brandenburg, die vielleicht einer dieser Orte sein oder werden könnte, von denen Geywitz spricht.
In Wiesenburg gibt es neben einem Schloss und einem liebevoll gepflegten Park viel Leerstand. Denn in der Brandenburger Landstille fehlt es an Arbeitsplätzen. Und damit an Gewerbe- und Einkommenssteuereinnahmen und an Zukunftsperspektiven.
In Niedrigzinsphasen günstig verschuldet
Bürgermeister Marco Beckendorf will das ändern. Deswegen hat er vor knapp vier Jahren Pläne entwickelt, die ganz nach dem Geschmack der Bundesbauministerin sein sollten: Auf alten DDR-Brachen soll Zukunft entstehen.
Die alte Schlossbrauerei gilt es dafür ebenso zu sanieren wie die nach der Wende abgewickelte Drahtzieherei. Aus einem ehemaligen VEB-Sägewerk soll schnellstmöglich ein Co-Working-Space namens KoDorf werden, von dem aus künftige Neubürger dank Homeoffice und Digitalisierung schon bald ihr Business betreiben sollen. Parallel zu diesen Vorhaben soll in Wiesenburg eine neue Wohnsiedlung entstehen.
Um diese Pläne umzusetzen, hat Wiesenburg/Mark Investitionskredite in Höhe von 3,7 Millionen Euro aufgenommen. Dank der Niedrigzinsphase schien das machbar, „so günstig wie jetzt haben wir uns noch nie verschuldet“, schmunzelt Bürgermeister Beckendorf in die Kamera. Er sagt auch: „Es ist eine Wette auf die Zukunft.“
Hier wächst nichts außer Baukosten
Das ZDF-Magazin WISO hat den Gemeindechef und die Wiesenburger begleitet, seit die Baupläne 2021 publik und Investoren dafür gesucht wurden. „Kampf um die Zukunft“ heißt die dabei entstandene Doku-Reportage (in der ZDF-Mediathek abrufbar). Sie zeigt den hoffnungsfrohen Start - und wie Beckendorfs Pläne binnen weniger Jahre klein geschliffen wurden.
Auf 2021 folgten der Krieg in der Ukraine, die Energiekrise, Inflation und das Ende der Niedrigzinsphase. Weil die Mühlen der Bürokratie im Zeitlupentempo mahlen, geht beim KoDorf & Co. nichts voran. Lediglich die Baukosten steigen. Und die Fördergelder reichen schon kurz nach Bewilligung nicht mehr aus.
Die Doku zeigt, an wie vielen Stellen Geywitz irrt mit ihrer Spontanlösung des Wohnungsproblems. Denn es ist mitnichten so, dass wohnungssuchende Städter einfach nur in gemachte Landbetten fallen müssen – der statistische Leerstand befindet sich größtenteils in Bauruinen.
Und: Der „Kampf um die Zukunft“ auf dem Land ist ein täglicher Häuserkrieg, für den man mehr als nur einen sehr langen Atem braucht. Zwischen großen Versprechen und spürbaren strukturellen Veränderungen in Dörfern und Gemeinden verstreicht schlicht zu viel Zeit.
In diesen Jahren der Formulare und Förderanträge gehen Träume elendig zugrunde. An ihrer Stelle wächst der Frust. Sich im Schneckentempo Richtung Zukunft zu bewegen, ist den meisten Menschen zu langsam.
Deutschland benötigt mehr alltagstaugliche Visionäre
Bewundernswert ist, dass es noch Menschen wie diesen grundsympathischen Bürgermeister Marco Beckendorf gibt, die sich über Jahre hinweg an der Vorstellung festhalten, in diesem trägen Deutschland etwas bewegen und verändern zu können.
Die sich notfalls an der Vorstellung aufrichten, dass 100 neue Wiesenburger dank der „Schlüsselzuweisung“ 100.000 Zusatzeuro vom Land Brandenburg in die Gemeindekasse spülen würden. Auch wenn das angesichts der Kosten für die Beseitigung der Altlasten auf dem Gelände der Drahtzieherei nur ein finanzielles Trostpflaster ist.
Was Deutschland fehlt, sind zweifelsresistente Visionäre wie Marco Beckendorf auf Bundesebene: Menschen, die nicht nur in die Zukunft denken, sondern auch die Gegenwart beschleunigen können. Und nicht wie Bauministerin Klara Geywitz nach knapp vier Jahren im Amt stolz verkünden, gegen Ende der Legislaturperiode doch noch „eine Strategie gegen den Leerstand“ vorlegen zu wollen.
Bis die dann umgesetzt wird, können die Menschen ja die „hohe Lebensqualität“ auf dem Land genießen. Beispielsweise in einer der Bauruinen von Wiesenburg/Mark.