TV-Kolumne „Die Krise der Mittelschicht“ - Doku zeigt die Wahrheit über Millionen Beschäftigte, die trotz Job arm sind

Ein Mann ist auf gespendetes Brot angewiesen.<span class="copyright">Arte</span>
Ein Mann ist auf gespendetes Brot angewiesen.Arte

Viele Menschen die in Deutschland arbeiten, sind trotzdem arm. An das Leben mit wenig Geld gewöhnen sie sich. Doch die Unsicherheit zermürbt die Betroffenen.

„Ich bin glücklicher als früher“: Das sagt Sven, Stahlarbeiter aus Leipzig, ein beeindruckender Mann. Er zeigt die Fabrikhallen, in denen er Motorblöcke für die Autoindustrie gegossen hat, 16 Jahre lang. Von seinem Arbeitsplatz sind nur ein paar Ruinen geblieben, verfallend, vor dem Abriss. „Einfach weg“, sagt Sven, und er wiederholt den Satz: „Einfach weg.“

„Arm trotz Arbeit – Die Krise der Mittelschicht“ heißt die Arte-Reportage, die Stahlarbeiter Sven ein Forum gibt und ihn zu Wort kommen lässt. Zu Beginn sammelt sie verstörende Bilder aus ganz Europa. Gelbwesten-Proteste in Frankreich. Wutgeladene Demonstrationen auf den Straßen. Ohrenbetäubendes Lärmen mit Trillerpfeifen. Verblüffende Wahlerfolge für Populisten von ganz links und ganz rechts in ganz Europa.

„So unterschiedlich die Strömungen sind“, sagt eine Sprecherin zu den Filmausschnitten, „sie alle sind wütend auf die Politik. Sie haben kein Vertrauen mehr in Regierungen und Institutionen. Geschürt werden die Proteste durch eine wirtschaftliche Unsicherheit, die in den letzten Jahrzehnten immer weitergewachsen ist.“

Die Misere begann mit dem Heuschrecken-Investor

Bei Sven, dem Stahlarbeiter aus Leipzig, hat sich die Unsicherheit langsam aufgebaut. Vor vier Jahren wurde sein Werk von Finanzinvestoren übernommen – einer, wie man sagt, Heuschrecke. Um möglichst viel Gewinn zu machen, sollten die Anlagen sauber filetiert und stückweise verkauft werden.

Es begann einer der größten Arbeitskämpfe seit dem Mauerfall. „Man darf sich nicht so einfach abservieren lassen, nur weil jemand so schnell wie möglich Kapital aus etwas schlagen will und wahrscheinlich höllisch viel Geld damit macht.“ So sagt es Sven.

Der Arbeitskampf war erfolgreich. Die Heuschrecke zog weiter, ein neuer Investor stieg ein. Doch dann strich die Autobranche die Aufträge. „Das war die ganze Zeit in der Schwebe“, erinnert sich Stahlarbeiter Sven. Das Unternehmen stürzt in die Insolvenz. Das Ende war für ihn fast eine Erleichterung. „Und dann sagt’s endlich jemand. Das muss man nehmen, so unschön, wie es ist.“

Es ist die Angst vor der Zukunft, die zermürbt

Die Unsicherheit ist das große Thema dieser Arte-Reportage. An Armut könne man sich gewöhnen, heißt es. An Armut könne man sich anpassen. Mit Armut könne man leben. Wirklich hart, wirklich zerstörend sei die Unsicherheit, nicht zu wissen, wie es weitergeht.

Da gibt es den gelernten Fahrzeuglackierer. Er ist 23 Jahre alt und verdient in einem Autohaus 1550 Euro netto. Das reicht nicht für mehr als ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft. Den Mangel kennt er gut aus seiner Familie.

Schlimmer ist es für seine Eltern. Die sind vor 30 Jahren aus Türkei gekommen. Ein gebrochenes Handgelenk macht seinen Vater arbeitsunfähig. Das wird wohl bis zur Rente so bleiben. Wie er davon dann leben soll? Sehr viel mehr als ein Achselzucken findet der Mann nicht als Antwort. Es ist die Angst vor der Zukunft, die Unsicherheit, die auch ihn zermürbt.

Armut trotz Job: „Keiner gibt zu, dass es nicht mehr funktioniert“

Dieses Muster wiederholt sich. Der TV-Zuschauer lernt Vanessa kennen, 41. Sie steht auf der Straße und hält ein Schild hoch: „Ich bin armutsbetroffen.“ Dieser Schritt kostet Mut. Doch Vanessa hat beschlossen, dass sie in dieser Gesellschaft nicht mehr mitspielen will. Sie will nicht „die heile Welt nach außen transportieren“. Sie will ihrer Umwelt nicht vorspielen, dass ihr Leben heil ist und alles „im Job toll“.

Ihre Erfahrung: „Keiner gibt es zu, dass es bei ihm nicht mehr funktioniert.“ Was bei ihr nicht funktioniert? Die 41-Jährige ist alleinerziehend, ihre Tochter acht Jahre alt. Als Alltagsbegleiterin von Menschen mit Beeinträchtigung verdient sie 950 Euro im Monat. Dazu kommen Kindergeld und Wohngeld. Doch kostet allein die Miete in einem Kölner Vorort 800 Euro.

„Vielleicht heiratet meine Tochter mal reich…“

„Wenig Geld, das kenne ich“, sagt Vanessa, ohne zu klagen. Und dann kommt wieder das Dauerthema dieser Reportage: „Aber das Unsichere“, stöhnt sie, „wenn man dann Anträge stellt, die ewig nicht bearbeitet werden – immer noch eine Nachfrage, noch ein Dokument, das nachgereicht werden muss. Wenn man dann auf taube Ohren stößt, wenn man anruft.“

Es ist ein Leben, ohne jede Aussicht auf Besserung. Ihr Rentenbescheid liegt aktuell bei 540 Euro. Obwohl sie immer gearbeitet hat, wird sie auch im Alter vom Sozialamt abhängig sein. „Vielleicht heiratet meine Tochter mal reich!“, scherzt sie. Es ist ein bitterer Scherz. Schließlich ist sie selbst von einem ganz anderen Lebensmodell überzeugt: „Ich gebe ihr mit, dass man Sachen selber machen kann.“ Ohne Mann, der alles kann. Solange er eben will.

Prekäre Jobs halten Frauen im Hamsterrad der Hoffnungslosigkeit

Wie vernünftig das ist, bestätigt die Statistik. Ein Drittel aller Beschäftigten in Europa arbeitet in so genannten prekären Verhältnissen. Der Anteil von Frauen in Jobs, von denen man nicht leben kann, ist deutlich höher. Im TV-Beitrag sagt die Arbeitsmarktexpertin Veronika Bohrn Mena: „Die alten Rollenbilder sehen so aus, dass die Frauen die unbezahlten Arbeiten machen. Darum ist Altersarmut vor allem ein Frauenthema.“ Die Trostlosigkeit bestätigt Soziologin Mona Motakef: „Die große Hoffnung bei prekärer Beschäftigung war, dass es eine Brückenfunktion gibt. Genau das gibt es nicht. Es ist ein Hamsterrad.“

„Man darf sich nicht einfach so abservieren lassen“, befindet der Leipziger Stahlarbeiter Sven. Er hat einen neuen Job gefunden, als Servicemonteur. „Ich werden nach Leistung bezahlt“, freut er sich. Und er stellt fest: „Ich bin glücklicher als früher.“ Sorgenfrei macht ihn das trotzdem nicht. Noch lebt er in Leipzig für 530 Euro Warmmiete. Doch spürt er den Strukturwandel extrem. „Das treibt enorm die Preise“, stellt er fest.

Und mit dieser Sorge ist er in guter Gesellschaft. Geringverdiener in Deutschland geben 42 Prozent des Einkommens für Wohnen aus. Wie gesagt: Es ist die Unsicherheit, die krank macht. Schließen wir mit der Sprecherin der Arte-Reportage: „Die Wut kann nur gestoppt werden, wenn die soziale Ungleichheit nicht noch weiter wächst.“