Tyron Ricketts im Interview: "Als ich ein Kind war, gab es nur Roberto Blanco und Eddie Murphy"

Tyron Ricketts wurde 1973 als Sohn einer Österreicherin und eines Jamaikaners geboren - und ist in Deutschland aufgewachsen. Er arbeitet Schauspieler, Musiker und moderierte als HipHop-Kenner von 1996 bis 2000 "Word Cup" beim Musiksender VIVA. Heute entwickelt der Wahl-Berliner auch Film- und Serienstoffe wie "Sam - Ein Sachse". (Bild: Ava Pivot)
Tyron Ricketts wurde 1973 als Sohn einer Österreicherin und eines Jamaikaners geboren - und ist in Deutschland aufgewachsen. Er arbeitet Schauspieler, Musiker und moderierte als HipHop-Kenner von 1996 bis 2000 "Word Cup" beim Musiksender VIVA. Heute entwickelt der Wahl-Berliner auch Film- und Serienstoffe wie "Sam - Ein Sachse". (Bild: Ava Pivot)

Tyron Ricketts wuchs als Schwarzer in Deutschland auf, moderierte das HipHop-Magazin bei VIVA und spielte einen Kommissar bei "SOKO Leipzig". Nun ist er einer der Serienmacher von "Sam - Ein Sachse", der ersten deutschen Serie von Disney+, sie erzählt eine wahre schwarze Wendegeschichte.

Tyron Ricketts kennt sich aus mit Schwarzsein in Deutschland. Er wurde 1973 als Sohn einer Österreicherin und eines Jamaikaners geboren - und wuchs in Deutschland auf. Ricketts arbeitete als Schauspieler, Musiker und moderierte als HipHop-Experte von 1996 bis 2000 das Magazin "Word Cup" beim Musiksender VIVA. Heute entwickelt der Wahl-Berliner auch Film- und Serienstoffe wie "Sam - Ein Sachse", der ersten deutschen Serie des Streamingdienstes Disney+. "Sam - Ein Sachse" erzählt die unglaubliche Lebensgeschichte von Sam Meffire. Er wurde als erster Schwarzer in der DDR Volkspolizist, diente nach der Wende als Promi-Cop einer Kampagne gegen rechte Gewalt - und kam später in den Knast. Ab Mittwoch, 26. April, sind alle sieben Episoden verfügbar. Im Interview erklärt der 49-Jährige, warum eine solche Serie heute in Deutschland möglich ist - und warum ihm noch vor einigen Jahren niemand den Stoff abgekauft hätte.

teleschau: Wann sind Sie auf die Idee gekommen, dass Sie mit der Lebensgeschichte von Sam Meffire einen tollen Serienstoff in den Händen halten?

Tyron Ricketts: Das war schon vor über 20 Jahren. Ich habe Sam 2001 kennengelernt, da hat er mir seine unglaubliche Geschichte erzählt. Damals war aber der Markt noch nicht so weit, dass man in Deutschland eine schwarze Hauptfigur akzeptiert hätte. Auch mit dem Produzenten Jörg Winger war ich danach schon im Gespräch, als ich bei "SOKO Leipzig" als Schauspieler arbeitete. Wir dachten zusammen über einen Kinofilm nach. Doch das Feedback war das Gleiche: "So etwas können wir dem deutschen Publikum nicht zumuten." 2018 fingen Jörg, Chris Silber und ich dann wieder an - mit der Idee, Sams Leben als Serie zu erzählen.

teleschau: Sie beginnen mit seinem Eintritt in die Volkspolizei und enden mit seiner Haftentlassung vor etwa 20 Jahren. Man hätte dieses verrückte Leben natürlich auch danach noch weitererzählen können ...

Ricketts: Wir haben uns auf die markanten Punkte konzentriert: Volkspolizei, Mauerfall - und danach war der Osten eben etwas anderes, als er vorher war. Plötzlich war es "der wilde Osten". Ein Ort ohne Regeln, gerade für einen schwarzen Deutschen. Das war dann für uns der nächste Erzählabschnitt. Danach kommt Sam, die Werbe-Ikone. Er suchte Struktur nach dem Mauerfall und ist deshalb wohl nach der Wende wieder zur Polizei gegangen. Da erlebte er Enttäuschungen, danach einen Höhenflug und einen brutalen Absturz, der in Kriminalität und im Knast endete.

Gemeinsames Bild bei der Serien-Premiere am 18. April 2023 in Berlin: Der echte Sam Meffire (links) und Schauspieler Malick Bauer, der Meffires echte Lebensgeschichte in der Serie "Sam - Ein Sachse" als Hauptdarsteller verkörpert.  (Bild: Hanna Boussouar / Disney+)
Gemeinsames Bild bei der Serien-Premiere am 18. April 2023 in Berlin: Der echte Sam Meffire (links) und Schauspieler Malick Bauer, der Meffires echte Lebensgeschichte in der Serie "Sam - Ein Sachse" als Hauptdarsteller verkörpert. (Bild: Hanna Boussouar / Disney+)

"Hey, du siehst aus wie Eddie Murphy"

teleschau: Sie haben gesagt, dass die Zeit vor 20 Jahren noch nicht reif war für diesen Stoff. Was musste in Deutschland passieren, damit die Serie nun gemacht werden konnte?

Ricketts: Verschiedene Dinge. Damals wurde Erfolg im deutschen Fernsehen rein über die Quote gemessen. Hinter der Quote verbargen sich damals 5.500 Musterhaushalte, in denen der Hauptverdiener muttersprachlich deutsch sein musste. Wie realistisch diese Quote war, kann man sich selbst überlegen. Heute ist es anders. Streamingdienste und Mediatheken sind ein immer wichtigerer Faktor - und dort kann man Geschichten anders erzählen. Streamingdienste haben meist die gesamte Welt als Markt im Blick. Wenn man sich deren Bevölkerung anschaut, dann ist nur eine Minderheit weiß. Ein Großteil sind People of Colour. Streamingdienste haben natürlich ein Interesse daran, Geschichten zu erzählen, die ihr Publikum interessiert. Insofern haben wir heute eine ganz andere Situation als vor 20 Jahren.

teleschau: Spielen auch gesellschaftliche Phänomene abseits der Medienentwicklung eine Rolle?

Ricketts: Auch da gibt es entscheidende Dinge, die sich verändert haben. Bewegungen wie "Black Lives Matter", "MeToo" oder "Fridays for Future" führten dazu, dass wir als Gesellschaft unseren Blick geweitet haben. Es stehen nun Themen auf der Agenda, die vorher als sehr randseitig empfunden wurden. Das wiederum hat mit Wandel von Kommunikation durch Digitalisierung zu tun. Digitalisierung demokratisiert, davon bin ich fest überzeugt. Wir kommunizieren weniger in der Pyramide, sondern mehr im Netzwerk. Der Chor der Stimmen spielte heute eine viel wichtigere Rolle als zuvor, als einige Mächtige an der Spitze der Kommunikations-Pyramide saßen.

teleschau: Hat sich der Umgang mit "People of Colour" in Deutschland über die letzten Jahre ruckartig gewandelt? Oder war das ein eher langsamer Prozess?

Ricketts: Ich denke, beides trifft ein bisschen zu. Als ich ein Kind war, gab es fast gar keine schwarzen Menschen im deutschen Fernsehen. Es gab Roberto Blanco und Eddie Murphy, das war's. In der Schule haben immer alle zu mir gesagt: "Hey, du siehst aus wie Eddie Murphy." Aber ich sehe halt gar nicht aus wie Eddie Murphy. Es hat sich danach ganz langsam verändert, dass man differenzierter wahrgenommen wurde - aber eigentlich kaum nennenswert. Trotz aller "Chartas der Vielfalt", Selbstverpflichtungen und so weiter. Erst durch die Streamer ist es selbstverständlicher geworden, Diversität zu zeigen. Und in der deutschen Film- und Fernsehbranche hat "Black Lives Matter" für einen wahren Ruck gesorgt. Seitdem bewegt sich wirklich etwas.

Die letzten Tage der DDR: Sam (Malick Bauer) hat es zu einer Eliteeinheit der Volkspolizei geschafft. Seine Freundin ist wenig begeistert, denn sie protestiert gegen den Staat. Die Serie "Sam - Ein Sachse" er zählt eine unglaubliche, aber wahre Lebensgeschichte - in einem durchaus größeren Kontext afrodeutschen Lebens. (Bild: © 2023 Disney und seine verbundenen Unternehmen)

"27,3 Prozent der Deutschen haben eine Migrationsgeschichte"

teleschau: Was genau hat sich verändert?

Ricketts: Neu ist, dass man Rassismus anders betrachtet. Früher dachten die Deutschen, dass nur jene, die rechts wählen, Rassisten wären. Aber es ist der Blickwinkel auf die Welt, die den strukturellen Rassismus ausmacht. Nur ein Beispiel: Viele Leute wissen, wann Kolumbus Amerika entdeckt hat. Aber wie kann man einen "neuen" Kontinent entdecken, auf dem schon längst Leute leben. Wir haben als Gesellschaft einen eurozentristischen Blick auf die Welt - aber dieses Narrativ muss sich verändern.

teleschau: In welche Richtung?

Ricketts: 27,3 Prozent der Deutschen haben eine Migrationsgeschichte. Doch die Erzählung von Deutschland in Film und Fernsehen spiegelte das lange Zeit nicht wider. Und wenn, dann sehr klischeehaft. Das beginnt sich nun zu verändern - vor allem vor der Kamera. Es ist aber auch wichtig, dass sich Strukturen öffnen und auch hinter der Kamera und im Business, dort wo Entscheidungen getroffen werden, andere Perspektiven sitzen: weibliche Perspektiven, People of Colour, Menschen mit Behinderungen oder aus der LGBT+ Community. Nur dann werden die Geschichten divers, und unsere Welt, wie sie wirklich ist, kann in Erzählungen abgebildet werden.

teleschau: Hat es in Deutschland länger gedauert, bis man erkannt hat, wie komplex das Thema Rassismus ist?

Ricketts: Ja, ich denke schon. In Deutschland hat man bis vor kurzem noch gesagt, dass man kein Rassist sein kann, weil die eigene Tante mit einem Türken verheiratet ist, oder so. Doch das ist natürlich Quatsch. Ein schwarzer Franzose oder Engländer hat sich schon 1980 als Franzose oder Engländer gefühlt. Und ein schwarzer US-Bürger fühlte sich natürlich als Amerikaner. Deutschland hat lange verneint, dass man ein Einwanderungsland ist. "Gastarbeiter" sollten wieder zurückgehen in ihre Länder, und jeder, der nicht weiß war, galt als Ausländer. Selbst dann, wenn man einen deutschen Pass hatte. Das ist schon eine deutsche Besonderheit, ebenso wie die Tatsache, dass die deutsche Kolonialgeschichte hier weniger thematisiert wurde als anderswo. Rassismus war hier immer nur Antisemitismus und bezog sich auf die Nazizeit. Das war aber auch ein Hinderungsgrund, den Blick zu weiten. Man dachte: Wir haben doch schon so viel getan! Dabei hat man vergessen, dass Rassismus auch andere Gesichter hat.

Tyson Ricketts als Schauspieler in der deutschen Disney-Serie "Sam - Ein Sachse". Neben seiner Rolle als Anführer einer schwarzen Türsteher-Gruppe im Sachsen der Nachwende-Zeit fungiert der 49-Jährige auch als einer der Showrunner und Autoren der Serie. Den echten Sam Meffire kennt Ricketts seit über 20 Jahren. (Bild: © 2023 Disney und seine verbundenen Unternehmen)

"Wir wollten das Gefühl der Zeit einfangen"

teleschau: Was könnte andere Teile der Welt - Amerikaner, Afrikaner oder Asiaten - an der deutschen Geschichte "Sam - Ein Sachse" interessieren?

Ricketts: Diese Geschichte ist für sich sehr spannend - egal, wo sie spielt! Es ist eine hochemotionale Story, die von der Suche nach Heimat erzählt. Es geht darum, ein Teil des Ganzen zu sein und nicht ausgeschlossen zu werden. Das ist etwas zutiefst Menschliches, Universelles - in das sich viele Menschen reinversetzen können. Ich glaube jedoch auch, dass es für viele Leute auf dem Erdball etwas Neues ist, deutsche Geschichte durch die Augen eines schwarzen Protagonisten zu erleben.

teleschau: Man hört sehr viel Musik in der Serie. Auch viel Musik von schwarzen Künstlern. Stammen die Songs aus der jeweiligen Zeit oder Epoche, um die es in der Handlung gerade geht?

Ricketts: Die Musik der Serie war ein recht ambitioniertes Projekt. Neben dem Score, der sehr gut geworden ist, wie ich finde, setzen wir Original-Stücke aus der jeweiligen Zeit ein wie zum Beispiel Rio Reisers "Zauberland". Aber wir hatten auch afrodeutsche Künstlerinnen und Künstler gebeten, Songs zu komponieren, die sowohl auf die jeweilige Situation Sams in einer bestimmten Szene passen, die aber auch musikalisch nach Stilen der jeweiligen Zeit klingen sollten. Ich bin froh, dass wir so viele Kreative gefunden haben, die da mitgemacht haben: Megaloh, Lary, Sylabil Spill, Roger Rekless oder Teven. Wir haben denen Szenen gezeigt und sie haben die Songs direkt dafür geschrieben. Wir wollten das Gefühl der Zeit einfangen, aber es auch ein bisschen ins Moderne transportieren.

teleschau: Wie groß war Sam Meffires Einfluss auf die Serie?

Ricketts: Natürlich war er groß, weil Sam uns diese Geschichte ja über die vielen Jahre, die wir in Kontakt sind, erzählt hat. Unser Drehbuch basiert auf Sams Leben, aber wir haben die Informationen, die wir von ihm und dem Studium historischer Ereignisse und Quellen haben, anschließend in einen sehr diversen Writers Room gegeben, in dem weiße und schwarze Menschen saßen, einige aus dem Westen, andere aus dem Osten, Frauen und Männer. Sam konnte ab und zu in die Drehbücher reinschauen - und Feedback geben. So sind wir dort gelandet, wo wir jetzt mit der Serie stehen.

teleschau: Könnte man die Geschichte fortsetzen?

Ricketts: Wir haben darüber noch nicht gesprochen, denn es war als abgeschlossene Miniserie geplant. Aber wer weiß, wenn das Ding richtig durch die Decke geht, vielleicht überlegt man sich dann etwas. Auf der anderen Seite gibt es noch sehr viele andere, spannende Geschichten zu erzählen.

Eine schwarze deutsche Community im Sachsen der Nachwende-Zeit (von links): Ronny (Daniel Klare), Carlos (Nyamandi Adrian), Sam (Malick Bauer), Alex (Tyron Ricketts) and Martin (Aristo Luis) schützen als Türsteher einen Club. (Bild: © 2023 Disney und seine verbundenen Unternehmen)
Eine schwarze deutsche Community im Sachsen der Nachwende-Zeit (von links): Ronny (Daniel Klare), Carlos (Nyamandi Adrian), Sam (Malick Bauer), Alex (Tyron Ricketts) and Martin (Aristo Luis) schützen als Türsteher einen Club. (Bild: © 2023 Disney und seine verbundenen Unternehmen)