Analyse zur Kursk-Offensive - Experte aus Kiew: An fünf Stellen verändert sich Putins Krieg jetzt fundamental

Ein Panzer der russischen Armee, der mit einem Tarnnetz verhüllt ist, steht in einem Gebiet der russischen Region Kursk.<span class="copyright">Uncredited/Russian Defense Minis</span>
Ein Panzer der russischen Armee, der mit einem Tarnnetz verhüllt ist, steht in einem Gebiet der russischen Region Kursk.Uncredited/Russian Defense Minis

Die ukrainische Intervention in der russischen Oblast Kursk schlägt eine neue Seite im Krieg gegen Putin auf. An fünf Stellen ändert sich der Charakter des Krieges nun fundamental, schreibt der Analyst und Ukraine-Experte Andreas Umland, der sich gerade in Kiew befindet.

Der ukrainische Vorstoß in die westrussische Region Kursk seit dem 6. August 2024 ist keine Lappalie, wie sich mit jedem weiteren Tag seit seinem Beginn zeigt. Die unerwartete Operation Kiews auf dem Staatsgebiet der Russischen Föderation könnte den Charakter des Russisch-Ukrainischen Krieges verändern. Der ukrainische Angriff ist in mindestens fünf Punkten eine neue Entwicklung.

Erstens handelt es sich um eine klassische Militäroffensive, die von den offiziellen Streitkräften der Ukraine in großem Umfang durchgeführt wird. Frühere Infanterieangriffe auf russisches Staatsgebiet wurden von der kleinen und halbstaatlichen Legion Freies Russland und dem Russischen Freiwilligenkorps durchgeführt, die sich aus russischen Bürgern zusammensetzten, die auf der Seite der Ukraine kämpfen.

Ukraine macht jetzt mit Russland das, was Putin seit 2014 mit der Ukraine macht

Die jüngste Landinvasion in Russland wird dagegen von großen und regulären mechanisierten und kombinierten ukrainischen Truppen durchgeführt. Jetzt macht die reguläre ukrainische Armee in vielerlei Hinsicht mit Russland das, was die russische Armee seit 2014 mit der Ukraine macht. Die Symbolik dieser neuen Entwicklung ist - zumindest für Ukrainer, Russen und andere Osteuropäer - hoch.

Zweitens sind die ersten Tage des ukrainischen Landangriffs auf Russland für Kiew unerwartet erfolgreich verlaufen. Den ukrainischen Truppen gelang es, in kurzer Zeit mehr als 300 Quadratkilometer strategisch wichtiges russisches Staatsgebiet zu besetzen, wobei sie in dieser Anfangsphase nur einen geringen Teil ihrer Mannschaften und Ausrüstung verloren. Die ukrainischen Streitkräfte eroberten mehr als 10 Siedlungen, darunter das Verwaltungszentrum von Sudsha.

Obwohl Sudsha nur eine kleine Stadt mit etwa 5000 Einwohnern ist, war sie bis zum 6. August für die russische Armee als logistischer Knotenpunkt wichtig. In der späten Zarenzeit war Sudsha eine weitgehend ukrainischsprachige Siedlung. Im Jahr 1918 war das Städtchen für etwa einen Monat die erste Hauptstadt der entstehenden ukrainischen Sowjetrepublik.

Zum ersten Mal seit langer Zeit sieht die Karte des Frontverlaufs deutlich anders aus

Drittens hat der ukrainische Einfall in Russland seit dem 6. August 2024 zur größten und schnellsten Veränderung der Kriegsfrontlinie seit dem letzten ukrainischen Angriff auf das von Russland kontrollierte Gebiet der ukrainischen Regionen Charkiw und Cherson im Herbst 2022 geführt.

Bis vor Kurzem waren alle russischen und ukrainischen Gebietsgewinne oder -verluste seither kleiner und weniger bedeutend als der jetzige. Zum ersten Mal seit langer Zeit sieht die Karte des Frontverlaufs zwischen Russland und der Ukraine deutlich anders aus.

Viertens kann der ukrainische Vorstoß bei Kursk als verspätete Umsetzung der viel diskutierten ukrainischen Gegenoffensive von 2023 gesehen werden, die seinerzeit ins Stocken geriet.

Vor einem Jahr wurde ein ukrainischer Vorstoß erfolglos auf ukrainischem Boden versucht, während er nun - zumindest bisher - ergebnisreicher auf russischem Boden erfolgt. Mit dem relativ tiefen Eindringen ukrainischer Truppen in den Westen Russlands ist der Krieg wieder etwas weniger ein Zermürbungskrieg und wieder etwas mehr zum Bewegungskrieg geworden.

Quelle von erheblicher Verlegenheit und Ablenkung für den Kreml

Fünftens und vielleicht am wichtigsten ist, dass der Landkrieg zwischen Russland und der Ukraine mit dem Einfall in Kursk von einer Konfrontation, die sich fast ausschließlich auf ukrainischem Boden abspielt, zu einer Konfrontation geworden ist, die nun auf den legalen Staatsterritorien beider Länder ausgetragen wird.

Sie ist bereits nach den ersten Tagen ihrer Durchführung zu einer Quelle von erheblicher Verlegenheit und Ablenkung für den Kreml geworden. Dies wird vor allem dann von Bedeutung sein, wenn sich der ukrainische Vorstoß nach Russland nicht nur als kurze Episode erweist, sondern sich zu einem längerfristigen Phänomen entwickelt.

In einem solchen Fall wird Kiews Neuausrichtung des Verteidigungskriegs gegen Russland auf dessen Boden eine paradigmatische sowie strategische und nicht nur operative oder taktische Bedeutung haben.

Die neue Herangehensweise Kiews

Für Kiew ist der Einmarsch in das Gebiet Kursk vor allem ein Ablenkungsmanöver, mit dem Truppen, die sonst die Ukraine angreifen, verwüsten und terrorisieren würden, in einer westlichen Grenzregion Russlands gebunden werden sollen.

Das ukrainische Motiv für den Angriff könnte darüber hinaus darin bestehen, die Innen- und Außenpolitik Russlands zu beeinflussen. Kiew versucht offenbar, die politische Reputation, Propagandastrategie und Informationspolitik des Kremls sowohl in der russischen Bevölkerung als auch im Ausland zu untergraben.

Kiew hofft, dass die verschiedenen Versäumnisse russischer Staatslenkung, die zu den ukrainischen militärischen Erfolgen auf russischem Boden geführt haben, das Ansehen Putins vor allem in der russischen politischen Elite und bei pro-russischen Gruppen rund um die Welt beeinträchtigen werden. Die meisten nationalen und internationalen Unterstützer Putins sind weniger von der Ideologie des Putinismus fasziniert oder glauben ernsthaft an russische Erzählungen über Bedrohungen durch die Nato-Erweiterung, „ukrainischen Faschismus“, westliche Subversion usw.

Das plötzliche Verlierer-Image Moskaus

Vielmehr ist sie von zynischem Respekt vor dem offensichtlichen Erfolg von Putins rücksichtslosem, nihilistischen und scheinbar effizienten Verhalten im In- und Ausland geprägt. Der unerwartet tiefe und zumindest anfänglich erfolgreiche ukrainische Einmarsch in die Russische Föderation seit dem 6. August und das plötzliche Verlierer-Image Moskaus gegenüber Kiew erzeugen bei diesem Publikum kognitive Dissonanzen.

Der ukrainische Angriff hat es vermocht, Russlands strategische Unfähigkeit, administrative Mängel und materielle Schwächen erneut zu verdeutlichen. Diese Defizite waren bereits 2022 bei dem erfolglosen russischen Angriff auf Kiews im Frühjahr und dem erfolgreichen ukrainischen Gegenangriff in den Regionen Charkiw und Cherson im Herbst deutlich geworden.

Die aktuelle ukrainische Operation untergräbt erneut das populäre Narrativ von der angeblichen Unbesiegbarkeit und Überlegenheit Russlands - ein Trugbild, das oft propagiert wird, um einen russischen Siegfrieden mit ukrainischen Gebietsabtretungen zur Beendigung des Krieges zu begründen.

Kiew will die Rahmenbedingungen und Interpretation des Krieges grundlegend ändern

Die neue ukrainische Offensivität und Risikobereitschaft ist weniger eine Reaktion auf die russische Aggressivität als vielmehr Ergebnis der nunmehr 30 Monate andauernden zaghaften oder ausbleibenden globalen Hilfe für Kiew. Die Annexion Kuwaits durch den Irak im Jahr 1990 wurde von einer internationalen Koalition rasch rückgängig gemacht. In den 1990er Jahren wurde der serbische Irredentismus nach einigem Zögern durch eine Out-of-Area-Mission der Nato entschlossen eingehegt.

Im Gegensatz dazu ist die internationale Unterstützung für den belagerten ukrainischen Staat seit nunmehr 10 Jahren nicht nur von ausschließlich indirekter Art, sondern auch viel zu schwach. Und das trotz schon früher dramatischer Vorfälle wie der Annexion der Krim durch Russland am 18. März 2014 oder dem Abschuss des malaysischen Fluges MH-17 mit 298 Zivilisten an Bord am 17. Juli 2014.

Die westlichen Wirtschaftssanktionen gegen Russland und militärische sowie sonstige Unterstützung für die Ukraine haben zwar seit 2022 an Bedeutung gewonnen. Dennoch waren und sind sie nach wie vor völlig unzureichend, um das Territorium, die Bürger und die Infrastruktur der Ukraine vor Russlands völkermörderischem Angriff zu schützen.

Schlimmer noch, viele Länder des Globalen Südens unterstützen Russlands Vernichtungskrieg indirekt durch ihren Handel mit dem Aggressor. Westliche Entscheidungen zur Hilfe für die Ukraine erfolgen langsam, zögerlich und halbherzig. Nach zweieinhalb Jahren Tod und Leid will Kiew nun die Rahmenbedingungen und Interpretation des Krieges grundlegend ändern.

Unzureichende ausländische Hilfe als ukrainische Triebfeder

Auch in Zukunft wird Kiew mit verschiedenen Mitteln versuchen, der internationalen Öffentlichkeit zu demonstrieren, dass das Ende des Krieges offen und die Annahme einer unbestreitbaren russischen Überlegenheit irreführend ist. Ein größeres geopolitisches Ziel der ukrainischen Strategie steht darüber hinaus im Zusammenhang mit möglichen Verhandlungen mit dem Kreml über territoriale Fragen. Kiew strebt offenbar eine Veränderung des Verhandlungsinhalts an.

Möglicherweise ist der Angriff in dieser Hinsicht auch Vorbereitung auf größere multilaterale Gespräche wie die geplante zweite große internationale Konferenz über den Krieg im Anschluss an den ersten Friedensgipfel im Juli 2024 in der Schweiz.

Neben der fortgesetzten Darlegung moralischer, normativer und rechtlicher Argumente kann Kiew - wenn es gelingt, die eroberten russischen Gebiete zu halten - nun einen neuen Ansatz verfolgen. Sowohl in der direkten Kommunikation mit Moskau als auch auf internationalen Konferenzen kann die ukrainische Führung transaktionale Vorschläge unterbreiten, die einen Tausch der eroberten russischen Gebiete gegen annektiertes ukrainisches Territorium vorsehen.

Der neue Ansatz Kiews ist allerdings sowohl für die ukrainische als auch für die internationale Sicherheit gefährlich. Dies wird etwa daran deutlich, wenn der ukrainische Einmarsch in Russland am 6. August 2024 von Wladimir Putin als eine „groß angelegte Provokation“ bezeichnet wird. Diejenigen internationalen Beobachter, die mit Putins Definition übereinstimmen, sollten jedoch das begrenzte oder fehlende Interesse ihrer eigenen Länder an der Souveränität und Integrität der Ukraine im Auge haben.

Es ist die unzureichende ausländische Hilfe bei der Wiederherstellung der ukrainischen Grenzen seit 2014, die Kiew veranlasst hat, nun von einer rein defensiven zu einer offensiven Haltung überzugehen.

Ukrainischer Vorstoß dekonstruiert das Bild einer scheinbar statischen Frontlinie

Unabhängig vom Ausgang der aktuellen ukrainischen Operation in der Region Kursk wird Kiew weiterhin nach Schwachstellen entlang der gesamten Kontaktlinie mit dem russischen Staat sowie im Umgang mit seinen Verbündeten, Agenten und Stellvertretern suchen. Russland wird in die Verstärkung der russisch-ukrainischen Grenze investieren und anderen Kriegsschauplätzen als dem Osten und Süden der Ukraine mehr Aufmerksamkeit schenken müssen.

Der ukrainische Vorstoß in russisches Staatsgebiet dekonstruiert das Bild einer scheinbar statischen Frontlinie, stabilen Kräftekonstellation und vorhersehbaren Konfliktentwicklung - in Russland und weltweit.

Dr. Andreas Umland ist Analyst am Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien (SCEEUS) des Schwedischen Instituts für Internationale Angelegenheiten (UI).