Ukrainische Frontsanitäterin: Wir müssen auswählen, wen wir retten
Rina Reznik braucht einige Augenblicke, um sich daran zu erinnern, wie ihr Leben vor dem 24. Februar 2022 aussah, als Russland seinen Angriff auf die Ukraine begann.
Sie lächelt zaghaft: "Ich weiß nicht mehr, wie mein Leben vor drei Jahren aussah. Was waren meine Interessen? Wie habe ich gedacht?"
Im Februar 2022 war Reznik Biologielehrerin an einer Schule und absolvierte nebenbei ein Studium. Seit nunmehr fast drei Jahren dient sie in verschiedenen Brigaden der ukrainischen Armee, um verwundete Soldaten weg von der Front in Sicherheit zu bringen, erste Hilfe zu leisten und Leben zu retten.
Euronews hat Reznik in Brüssel getroffen, wo sie an einer Veranstaltung hinter verschlossenen Türen über die Auswirkungen des Krieges auf das ukrainische Gesundheitssystem teilnahm. Außerhalb der Ukraine zu sein, weit weg von der Front und in einem Land, das sich im Frieden befindet, fühlt sich für sie jedoch fremd an: "Europäer sprechen normalerweise gerne über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. In der Ukraine wissen wir nicht, wie die Balance zwischen Krieg und Leben aussieht. Das ganze Leben wird diesem Krieg geopfert."
Sie hegt jedoch keinen Groll - sie verstehe, warum die Europäer nicht ganz nachvollziehen können, was die Ukrainer in den letzten drei Jahren durchgemacht haben: "Ich glaube, sie verstehen es nicht ganz. Genauso wie ich viele syrische Flüchtlinge nicht verstanden habe, die in meiner Stadt Charkiw waren, als ich ein Teenager war. Wir haben viel über die syrischen Flüchtlinge gesprochen, aber ich glaube, ich habe nicht ganz verstanden, wie es ist", erinnert sich Reznik.
Heute weiß sie, dass es unmöglich ist, die Notlage anderer Menschen aus der Ferne zu verstehen. "Man kann das nur miterleben", sinniert sie.
Drei Jahre an der Front: Kriegsmüdigkeit in anderem Sinne
Auf die Frage, wie sie sich fühle, wenn sie von der "Kriegsmüdigkeit" höre, die sich außerhalb der Ukraine insbesondere in den westlichen Ländern einstellt, erklärt Reznik, dass die wahre Müdigkeit die sei, die die Ukrainer jetzt, nach knapp drei Jahren Krieg, fühlten: "Ich möchte wirklich darauf aufmerksam machen, wie erschöpft wir sind. Und das gilt für Soldaten, Chirurgen, Offiziere und andere."
All diese Menschen litten unter extremer Müdigkeit, aber es gebe nicht viel, was man dagegen tun könne. Sie könnten sich nur ausruhen, wenn sie verwundet werden und Zeit für die körperliche Rehabilitation bekommen.
Die seelische Rehabilitation ist eine noch kompliziertere Angelegenheit, jetzt fast unrealistisch. "Einige Offiziere des Gesundheitsdienstes der US-Armee haben mich einmal gefragt, wie viele Soldaten wegen psychischer Probleme wie Depressionen, Angstzuständen usw. versetzt wurden, denn sie (die US-Armee) haben Dutzende von Soldaten deswegen versetzt", erinnert sich Reznik. Die ukrainischen Soldaten hätten diese Möglichkeit nicht: "Wir führen den Krieg in vollem Umfang."
Deshalb setzt sie sich vor allem für einen hohen Standard der körperlichen Rehabilitation ein. "In keinem anderen Land ist das zivile Gesundheitssystem so stark in Mitleidenschaft gezogen worden", betont sie. Zur Veranschaulichung erzählt sie uns, dass sie vor einigen Wochen mit Vertretern des US-Militärgesundheitssystems im Walter Reed National Military Medical Center sprach, wo in den letzten zwei Jahrzehnten 2.000 Prothesen für amerikanische Kriegsveteranen ausgegeben wurden.
"Das reicht für zwei Monate in der Ukraine", sagt sie.
"Botschafter des Blutes"
In den letzten Jahren hat sich Reznik stark für Reformen im ukrainischen Gesundheitssystem eingesetzt, insbesondere im Bereich der Militärmedizin. Sie ist jedoch der Meinung, dass diese Reformen über die Ukraine hinausgehen werden, da jeder Krieg die Regeln und Standards der Militärmedizin verändert, insbesondere im Hinblick darauf, wie Bluttransfusionen auf dem Schlachtfeld eingesetzt werden.
"Sie wurde in Vietnam und Korea, im Zweiten Weltkrieg, im Iran und im Irak neu erfunden, also müssen wir natürlich auch in der Ukraine das Blut auf dem Schlachtfeld neu erfinden", sagt sie. Der Fall der Ukraine sei jedoch besonders, fügt sie hinzu, denn die ukrainischen Mediziner versuchten, "eine vollständige Bluttransfusion auf dem Schlachtfeld einzuführen." Was die Situation in der Ukraine noch komplizierter mache, sei der Transport von Verwundeten, der sehr unterschiedlich sei.
"Während die USA Verwundete mit Hubschraubern evakuieren können, weil ihre Feinde keine gute Artillerie und Luftabwehr usw. haben, können wir das nicht, auch wenn wir Dutzende von Hubschraubern haben. Wir müssen also nur auf dem Landweg evakuieren."
Jeder Abtransport werde angegriffen, und könne viele Todesopfer unter den Verwundeten wie auch unter den Sanitätern verursachen. Die Ukrainer haben auch nicht das, was die Amerikaner die "Golden Hour" nennen, erklärt Reznik.
"Sie bringen ihre Verletzten in weniger als einer Stunde zur chirurgischen Hilfe. Aber in der Ukraine brauchen wir manchmal Tage, um die Menschen abzutransportieren", und deshalb sei es wichtig, so früh wie möglich mit Bluttransfusionen zu beginnen, so Reznik.
Sie selbst bezeichnet sich als "Botschafterin des Blutes in der Armee" und hat viel Zeit und Mühe darauf verwendet, sich für Änderungen bei Bluttransfusionen auf dem Schlachtfeld einzusetzen.
Die Frontlandschaft in der Ukraine ist heute komplexer als während der früheren Kriege. "Wir haben eine riesige Front. Wir brauchen viele Blutkonserven, Hunderte. Wie transportiert man es? Wie lagern wir es? Wie verwenden wir es?", fragt sie.
Doch trotz dieser Komplikationen wurden Änderungen eingeführt, darauf ist Reznik stolz. "Mein leitender medizinischer Offizier hat eine Bluttransfusion 200 Meter von einer Frontlinie entfernt durchgeführt, 200 Meter vom Feind entfernt. Und das ist ein Sieg für uns."
Denen helfen, die anderen helfen
Das ukrainische Gesundheitspersonal und die Frontsanitäter und -sanitäterinnen standen während der fast drei Jahre unter enormem Druck. Was sie tagtäglich erleben, wirkt sich auf ihre eigene Gesundheit und insbesondere auf ihre seelische Verfassung aus.
Reznik sagt, die Zahl der Opfer sei jetzt "enorm", und das habe Folgen auch für ihre eigene Psyche: "Man kann sich einfach nicht mehr an die Gesichter der Menschen erinnern, die man im Laufe des Tages behandelt hat. Manchmal können es Hunderte an einem Tag sein. Und viele von ihnen haben wirklich massive Wunden, wirklich viele Brüche. Und man kann nicht alle retten", klagt sie. "Man kann nicht viele Ressourcen einsetzen, weil jede Minute eine neue Gruppe von Verletzten kommen kann."
"Das schreckenerregendste Wort im Vokabular der ukrainischen Militärärzte ist 'Triage', denn "man muss entscheiden, wen man jetzt rettet und wer auf Hilfe warten muss."
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Auf die Frage, wie sich die Militärmediziner drei Jahre nach Beginn des Angriffskrieges fühlen, fällt ihr die Antwort schwer. "Schaut man in die medizinischen Unterlagen, sieht man, dass die Jungen erst 19 Jahre alt sind. Und man weiß, dass wir ihm in einer halben Stunde das Bein amputieren."
Viele ukrainische Ärzte seien auch wegen der hohen Zahl von Todesopfern deprimiert, erzählt Reznik. "Sie haben das Gefühl, dass sie nicht mehr auf dem Niveau arbeiten können, das sie früher hatten. Dass sie manchmal nicht genug Zeit für jeden Verletzten haben, und dass sie nicht einmal Zeit haben, darüber nachzudenken, was sie als Nächstes tun sollen."