Der Unantastbare - Neuers Rücktritt war längst überfällig - nun macht er mich aber wehmütig

Manuel Neuer beendet seine Nationalmannschaftskarriere<span class="copyright">Getty Images</span>
Manuel Neuer beendet seine NationalmannschaftskarriereGetty Images

Manuel Neuer beendet seine Nationalmannschaftskarriere. Damit endet eine glorreiche Ära im deutschen Fußball. Für unseren Autor Dominik Rosing ist der Rücktritt längst überfällig - dennoch schaut auch er nun mit Wehmut auf die Entscheidung.

Erst Toni Kroos, dann Thomas Müller. Diese Woche folgte Ilkay Gündogan und nun Manuel Neuer. Der Torhüter beendet wie seine ehemaligen Teamkollegen seine Nationalmannschaftskarriere und läutet damit unweigerlich ein neues Zeitalter beim DFB ein.

Es war erwartbar, auch wenn die Nachricht nach einem Bericht der „Sport-Bild“ am Vortag ein wenig überraschend kam. Und es war längst überfällig.

Neuer, der Außerirdische

Neuer ist der beste Torhüter unserer Generation, wenn nicht sogar der beste aller Zeiten. Für mich, der ich als kleiner Junge Oliver-Kahn-Poster an der Wand meines Kinderzimmers hängen hatte, gibt es daran keinen Zweifel.

Fünfmal wurde er Welttorhüter, genauso oft wie Iker Casillas und Gianluigi Buffon. Doch keiner hat das Torwartspiel so neu erfunden, so revolutioniert wie Neuer. Ein Torwart wie ein Libero, der elfte Feldspieler. Damit war er für den FC Bayern und auch für die Nationalmannschaft ein Cheatcode, ein gemeiner Wettbewerbsvorteil.

Manuel Neuer im WM-Finale 2014 gegen Gonzalo Higuain<span class="copyright">FIFA via Getty Images</span>
Manuel Neuer im WM-Finale 2014 gegen Gonzalo HiguainFIFA via Getty Images
Manuel Neuer pariert im WM-Viertelfinale gegen Frankreich einen Schuss von Karim Benzema<span class="copyright">FIFA via Getty Images</span>
Manuel Neuer pariert im WM-Viertelfinale gegen Frankreich einen Schuss von Karim BenzemaFIFA via Getty Images

Seit der WM 2014 hat er schon Legendenstatus. Hat jemals ein Torhüter ein besseres Turnier gespielt? Wie oft hört man heute noch in Gesprächsrunden: „Weißt du noch, Neuer gegen Algerien?“ - „Ja klar, oder die Parade gegen den Schuss von Karim Benzema, als Neuer in der Nachspielzeit den Viertelfinalsieg gegen Frankreich festhielt?“ - „Und natürlich das Finale. Neuer gegen Messi. Neuer gegen Higuain. Neuer gegen alle.“ Neuer war nicht nur Weltklasse, er war außerirdisch.

Im Schatten Neuers versauert die Welt-Elite

An der Spitze seiner Karriere, zwischen 2013 und 2016, stellte er alle anderen Keeper in den Schatten. Niemand wusste in dieser Dunkelheit zu glänzen. Er überstrahlte sämtliche Anwärter und Herausforderer.

Davon gab es auch in der deutschen Nationalmannschaft genug. René Adler, Ron-Robert Zieler, Kevin Trapp und natürlich Marc-André ter Stegen.

Marc-André ter Stegen stand stets im Schatten von Manuel Neuer<span class="copyright">Getty Images</span>
Marc-André ter Stegen stand stets im Schatten von Manuel NeuerGetty Images

Letzterer konnte einem nur leid tun. Ter Stegen ist beim FC Barcelona zu einem der besten Torhüter der Welt aufgestiegen. Seine Konstanz über die Jahre ist beeindruckend. Der Torwart ist auch mit dem Ball am Fuß so begnadet, dass sogar einst Lionel Messi von einem der besten Fußballer im starbesetzten Barca-Team schwärmte. Mehr Lob geht nicht.

Neuer, der Unantastbare

Doch selbst ter Stegen stand bei allen Lobeshymnen, bei allen Ehrungen, bei allen Schwärmereien immer im Schatten von Neuer. Die ewige Nummer zwei im DFB-Dress. Ob Joachim Löw, Hansi Flick oder zuletzt Julian Nagelsmann: Neuer war unantastbar.

Egal wie gut seine Konkurrenz war und egal wie groß die Zweifel an Neuer von Zeit zu Zeit wurden: Die Nummer eins gehörte ihm.

Das fühlte sich zeitweise unfair und falsch an. Vor der WM 2018 fiel Neuer ein Dreivierteljahr wegen eines Mittelfußbruchs aus. Löw zögerte trotzdem keine Sekunde, ihm den Vorzug vor ter Stegen zu geben.

Mit zunehmendem Alter folgten weitere Verletzungen. Ein komplizierter Unterschenkelbruch, den er sich im Skiurlaub zuzog, setzte ihn fast das gesamte Kalenderjahr 2023 außer Gefecht.

Neuer oder ter Stegen?

Trotzdem holte ihn Bundestrainer Nagelsmann zur Heim-EM im vergangenen Sommer zurück und stellte Neuer dem zwischenzeitlich zur Nummer eins ernannten ter Stegen wieder vor die Nase.

Das empfanden viele, auch ter Stegen, als ungerecht. Denn während Neuer seine Skiverletzung auskurierte, wurde ter Stegen in Spanien zum besten Spieler (Spieler, nicht Torhüter!) der Liga gekürt. Er hatte sich die Position im DFB-Tor längst verdient.

Selbst mit 38 Jahren hatte Neuer noch nicht genug. Getrieben von Ehrgeiz und Titelhunger war die Aussicht auf den (noch fehlenden) EM-Titel im eigenen Land zu verlockend. Er konnte das Tor nicht freiräumen, seinem verdienten Mitstreiter überlassen. War es Egoismus? Stolz? Arroganz? Oder ist genau das die Essenz einer echten, der einzig wahren Nummer eins?

Neuer belehrte mich eines Besseren

Ich war in den letzten Jahren zu einem Kritiker Neuers geworden. Bei der EM belehrte er mich eines Besseren. Er ist noch immer Weltklasse.

Nun kann er trotz aller Zweifel, die in den vergangenen Monaten gesät wurden, würdig und aus freien Stücken aus der Nationalmannschaft zurücktreten.

Manuel Neuer im WM-Spiel gegen Algerien<span class="copyright">FIFA via Getty Images</span>
Manuel Neuer im WM-Spiel gegen AlgerienFIFA via Getty Images

Das ist die richtige Entscheidung. Und obwohl ich mir diesen persönlichen Schritt von ihm schon viel früher gewünscht hätte, macht er mich nun doch ein wenig wehmütig. Denn Neuers DFB-Aus besiegelt das Ende einer Ära. Nicht nur die des Manuel Neuers.

Mit ihm geht unser letzter Weltmeister von 2014. Unsere goldene Fußballer-Generation, mit der so viele von uns den Sport so lieben gelernt haben, mit der ich persönlich erwachsen geworden bin, sie ist nun weg.

Was bleibt, sind die Geschichten, die wir auch in Zukunft weiter erzählen werden. Weißt du noch, Neuer gegen Algerien?