Der 300-km-Irrsinn - geht das ohne Doping?
Laufen, essen, schlafen. Mehr spielt sich im Leben von Kelvin Kiptum nicht ab, glaubt man seinem Trainer Gervais Hakizimana.
Was nach Selbstkasteiung in Reinform klingt, soll in Wahrheit das Geheimnis des neuen Marathon-Weltrekordlers sein. Vor einer Woche hatte Kiptum in Chicago die alte Bestmarke seines kenianischen Landsmannes Eliud Kipchoge um über eine halbe Minute auf 2:00,35 Stunden verbessert und die Fachwelt in Staunen versetzt.
Fast noch mehr als der Rekord selbst, verwundert allerdings der Trainingsumfang, mit dem der 23-Jährige, der aus dem Elgeyo Marakwet County im kenianischen Hochland stammt, in neue Dimensionen vorgestoßen sein soll.
Über 300 Trainingskilometer pro Woche
„Eliud Kipchoge (vormaliger Weltrekordler, d. R.) legt jede Woche zwischen 180 und 220 Kilometer zurück“, verriet Hakizimana zuletzt in einem Interview mit der Nachrichtenagentur AFP. „Kelvin Kiptum läuft eher zwischen 250 und 280, manchmal sogar mehr als 300 Kilometer.“
Über 300 Kilometer pro Woche, das wäre mehr als ein Marathon am Tag und damit absolutes Neuland in der Szene. Ein echtes Tabu, an das sich bislang keiner herangetraut hat.
„Ich glaube, es ist möglich, diese Menge an Kilometer abzuspulen, wie es von seinem Trainer behauptet wird“, sagt der mehrfache deutsche 5000-Meter-Meister Mohamed Abdilaahi bei SPORT1. „Ich selbst habe schon als Mittel- und Langstreckenläufer Wochen über 200 Kilometer abgespult.“
Trainingsumfänge von über 300 Kilometer hält auch der anerkannte Dopingexperte Professor Fritz Sörgel prinzipiell für möglich. „Das Wichtigste für einen Marathonläufer ist die Ausdauer. Und da hat er Vorteile, wenn er seinem Körper im Training etwas zumutet, was andere nicht tun“, sagt Sörgel im Gespräch mit SPORT1. „Die Frage ist, ob jemand ehrgeizig genug ist, seinen Körper dermaßen zu schinden.“
Dass Kiptum mit seinem Husarenstück automatisch Zweifler und Skeptiker auf den Plan rief, lässt sich bei solchen Leistungen kaum vermeiden – vor allem vor dem Hintergrund zahlloser Dopingsperren kenianischer Leichtathleten in den vergangenen Jahren. Erst am Montag wurde Titus Ekiru, der sechstschnellste Marathonläufer der Geschichte, aus dem Verkehr gezogen.
„Gibt für mich keinen Ansatzpunkt zu sagen, dass er gedopt ist“
„Natürlich fragt man sich, wie es sein kann, dass solche Leistungssprünge in so kurzer Zeit zustande kommen“, sagt Sörgel, der sich aber nicht an etwaigen Spekulationen beteiligen will. „Es gibt für mich keinen Ansatzpunkt zu sagen, dass er gedopt ist.“
Der Pharmakologe erinnert vielmehr an ein sportliches Ereignis in der Vergangenheit, das zum damaligen Zeitpunkt ebenfalls unerklärlich schien.
„Ich denke an Bob Beamon, der diesen Peak im wahrsten Sinne des Wortes am 18. Oktober 1968 bei den Olympischen Spielen in Mexiko hatte (Beamon pulverisierte den Weitsprung-Weltrekord auf 8,90 m, d. R.). Man hat damals einiges diskutiert, was die Leistung hervorgerufen haben könnte, Tartanbahn, Rückenwind, Höhenluft. Ich wüsste kein Dopingmittel, das so einen plötzlichen Leistungsanstieg an einem Tag hervorrufen hätte können.“
Sörgels Conclusio: „Lassen wir Kiptums Leistung erstmal da, wo sie auch bei Bob Beamon hingehörte: ins Geheimnisvolle, Unerklärliche.“
Sörgel: Keine Chance mehr für Dopingsünder
Diese Geheimnisse würden durch fehlende wissenschaftliche Analysen verstärkt, erklärt Sörgel. „Was ich schade finde: Diese Athleten werden nicht, wie bei uns, von universitären Instituten, vor allem der Sportmedizin, begleitet, damit man besser versteht, was in deren Körpern abläuft.“
Daran schließe sich die Frage an, „ob es nicht doch irgendwelche geheimnisvolle Substanzen gibt, die unerlaubt sind. Damit wir uns verstehen: Ich will dies keinesfalls unterstellen. Es ist ja nicht mehr so wie noch vor 30, 40 Jahren, als die Wissenschaft noch nicht so weit war. Von der Analytik her muss das früher oder später entdeckt werden, dazu sind die Methoden, speziell im Kölner Labor, mittlerweile zu gut.“
Diese seien technisch so ausgerüstet, dass man auch die Substanzen, die vorher nicht bekannt waren, mittlerweile nachweisen könne.
Wie ist es aber möglich, dass ein Marathon-Novize die Konkurrenz in Grund und Boden rennt? Kiptum hatte vor seinem Chicago-Sieg bereits seine ersten beiden Wettkämpfe in Valencia und London auf der 42,195-Kilometer-Distanz gewonnen.
Kiptum bricht mit alten Theorien
Ein Ansatzpunkt für das Vorstoßen in neue Sphären könnte in Kiptums Alter liegen, denn auch in diesem Bereich ist der neue Weltrekordler mit seinen 23 Jahren ein echter Exot. Bislang galt die These, dass gute Marathonläufer erst im Laufe der Zeit ihr volles Potenzial ausschöpfen, so wie bei Kipchoge, der mit 28 Jahren von der Tartanbahn auf die Straße wechselte und sich kontinuierlich steigerte.
Noch mit 37 Jahren verbesserte der langjährige Dominator im vergangenen Jahr seinen eigenen Weltrekord, den ihm sein Landsmann nun entriss.
Kiptum setzte dagegen seinen Fokus früh auf die Straße und rannte schon als Teenager den Halbmarathon unter einer Stunde. Ein echter Paradigmenwechsel, der da gerade stattfindet.
„Wer sagt denn, dass man erst eine Karriere auf der Tartanbahn hinlegen muss, bevor man mit 30 Jahren auf die Straße wechselt?“, fragt Sörgel. „Generell werden Thesen immer wieder über den Haufen geworden.“
Bei aller Euphorie um Kelvin Kiptum gibt es allerdings auch große Bedenken, die sein Trainer angesichts des riesigen Trainingsumfanges seines Schützlings äußert. „Er ist in den besten Jahren, aber ich habe Angst, dass er sich irgendwann verletzt“, sagte Hakizimana. „Er trainiert sehr viel. Bei diesem Tempo droht er zu zerbrechen, ich habe ihm angeboten, das Tempo zu drosseln, aber er will nicht.“
„Ich habe ihm gesagt, dass er in fünf Jahren verbrannt ist“
Dass der Coach bei Kiptum auf taube Ohren stößt, könnte fatale Folgen haben, befürchtet Hakizimana. „Ich habe ihm gesagt, dass er in fünf Jahren verbrannt ist, dass er sich beruhigen muss, um in der Leichtathletik zu bestehen.“
Die Sorgen des Trainer kann Sörgel nachvollziehen. „Kiptums Trainer hat ja auch gesagt, dass es ihm nicht so recht ist, weil er befürchtet, dass er in ein paar Jahren ausgelaugt ist. Ich kann nicht beurteilen, ob er klug vorgeht und mit 23 Jahren schon reif ist, alles zu erkennen.“
Für Abdilaahi, der „vor Kiptums Leistung nur den Hut ziehen kann“, gilt dasselbe: „Interessant wird sein, wie lange er das durchhalten kann, weil das natürlich nochmal ganz andere Sphären sind.“
Gut möglich, dass der Youngster zumindest so lange durchhalten wird, bis er als erster Mensch die Zwei-Stunden-Schallmauer durchbricht. Bis dahin heißt es für Kelvin Kiptum: laufen, essen, schlafen.