Werbung

Ungeklärte Mordfälle: Rätsel um den "Boy in the Box"

In dieser Kiste wurde der ermordete Junge gefunden (Bild: Philadelphia Police Department)
In dieser Kiste wurde der ermordete Junge gefunden (Bild: Philadelphia Police Department)

Ein Kind wird ermordet und die Leiche in einem alten Pappkarton auf einer Wiese abgestellt. Vom Mörder fehlt jede Spur, aber das ist es nicht, was die Kriminalbeamten am meisten umtreibt.

“Mein Name ist Frederick J. Benonis und der 25. Februar 1957 war der schlimmste Tag meines Lebens. Denn wer einmal gesehen hat, was ich gesehen habe, dem fällt es schwer, nachts zu schlafen. Es war ein grauer Montag gegen 15:30 Uhr, als ich die Susquehanna Road in Pennsylvania entlangfuhr. Ich hatte nichts Besonderes vor. Nun ja, ehrlich gesagt wollte ich nur den Mädels von der Good Sheperd School einen Besuch abstatten. Nicht, dass ich je mit einer gesprochen hätte. Aber ein bisschen gucken wird man ja noch dürfen. Wie ich so fahre, merke ich auf einmal, dass ich pinkeln muss. Ich halte also an und schlage mich ins Gebüsch, als ich auf einmal einen ziemlich großen Karton vor mir sehe.”

“Ich weiß noch genau, dass ‘Vorsicht: Zerbrechlich’ draufstand – wahrscheinlich habe ich ihn deswegen überhaupt erst aufgemacht. Ich schaue also rein und mich trifft fast der Schlag. Da lag ein kleiner Junge drin. Natürlich bin ich wahnsinnig erschrocken und habe den Deckel gleich wieder zugemacht. Aber als ich mich wieder eingekriegt hatte, musste ich einfach noch einmal hineinschauen. Der arme Kerl sah wirklich übel aus. Sein Kopf und das ganze Gesicht waren voller blauer Flecken und Narben. Er war nackt und bloß in so eine billige Decke eingewickelt. Was mich bis heute am meisten beschäftigt: Derjenige, der ihm das angetan hat, muss ein brutales Schwein gewesen sein. Aber er hatte ihm ganz akkurat die Hände auf dem Bauch gefaltet.”

Frederick J. Benonis brachte es erst am nächsten Morgen über sich, die Polizei in Philadelphia über seinen grausigen Fund zu informieren. Dem 26-jährigen Studenten an der katholischen Universität La Salle war es wohl einfach zu peinlich, den Beamten zu erklären, warum er überhaupt am Fundort der Leiche unterwegs war. Später unterzog er sich einem Lügendetektor-Test und konnte damit jeden Verdacht von sich abwenden.

Niemand sollte den Jungen erkennen

Fest steht, dass dieser Fall auch den erfahrensten Ermittlern an die Nieren ging. Da die Identität des Mordopfers bis heute nicht aufgeklärt werden konnte, ging der vier- bis sechsjährige weiße Junge als “The Boy in the Box” (Der Junge im Karton) oder auch als “America’s unknown child” (Amerikas unbekanntes Kind) in die Kriminalgeschichte ein.

Wie von Benonis berichtet, war der unterernährte Körper des Jungen von blauen Flecken übersät, die ihm wohl alle in etwa zur selben Zeit zugefügt wurden. Besonders betroffen war dabei der Kopf, die massive Gewalteinwirkung stellte sich später als Todesursache heraus. Zudem hatte er insgesamt sieben Narben. Drei davon, an Brust, Knöchel und Leiste, waren gut verheilt und stammten möglicherweise von operativen Eingriffen.

Besonders auffällig waren die kurz und unregelmäßig geschnittenen hellbraunen Haare des Jungen, die noch büschelweise an ihm hafteten. Ein Indiz dafür, dass ihm die Haare erst nach oder kurz vor seinem Tod geschnitten worden waren – wohl in der Absicht, seine Identifizierung zu erschweren.

Der Körper des Jungen war trocken und sauber, allerdings wies die schrumpelige Haut am rechten Handteller wie auch an den Fersen beider Füße darauf hin, dass diese Körperteile über einen längeren Zeitraum im Wasser gelegen hatten. Die Obduktion ergab ein wahrscheinlich chronisches Augenleiden, zudem wurde ein brauner Rückstand im Magen gefunden, der darauf hindeutete, dass sich der Kleine kurz vor seinem Tod erbrochen hatte.

Zwei Dinge erschweren den Ermittlern die Arbeit: Zum einen die winterlichen Temperaturen, die ein genaues Bestimmen des Todeszeitpunktes unmöglich machen. Zwischen zwei bis drei Tagen und zwei bis drei Wochen vor dem Auffinden scheint alles möglich. Und: Wie kann es sein, dass niemand den Jungen vermisst?

Trotz aller Fahndungsaufrufe konnte die Identität des Jungen nie geklärt werden (Bild: Philadelphia Police Department)
Trotz aller Fahndungsaufrufe konnte die Identität des Jungen nie geklärt werden (Bild: Philadelphia Police Department)

Flyer und Plakate werden gedruckt und verteilt, die Finger- und Fußabdrücke abgeglichen, Krankenhausakten gewälzt und Heime und Familien mit Pflegekindern befragt. Doch heraus kommt – nichts. Eine heiße Spur gibt es allerdings: Den Karton, in dem das Kind lag und der ursprünglich eine Babywiege enthielt.

Er ist einer von insgesamt nur zwölf Exemplaren, die am 27. November 1956 in eine Filiale des Unternehmens J. C. Penney geliefert und bis zum 16. Februar 1957 verkauft wurden. Relativ schnell können elf Käufer ermittelt, befragt und schließlich ausgeschlossen werden. Doch der zwölfte bleibt ein Phantom. Es melden sich Zeugen, die den Jungen wiedererkannt und ihn in Gesellschaft eines 30-jährigen Mannes gesehen haben wollen.

Ein anderer berichtet, er hätte am späteren Fundort der Leiche eine Frau und ein Mädchen gesehen, die etwas, was in ihrem Kofferraum lag, vor ihm hatten verbergen wollen. Jahre später behauptet eine Frau, ihre Mutter hätte den Jungen auf inoffiziellem Wege adoptiert, misshandelt und schließlich getötet. Die Frau hat psychische Probleme, doch die Polizisten nehmen ihre Aussage ernst, da sie einige Übereinstimmungen mit anderen Zeugenberichten aufweist. Letztlich gelingt es ihnen jedoch nicht, sie zu bestätigen.

Eine Pflegefamilie unter Verdacht

Eine andere Theorie dreht sich um eines der kleinen, privaten Pflegeheime in der Umgebung. Nur eineinhalb Meilen vom Fundort entfernt liegt das Haus eines Ehepaars, das Pflegekinder aufzieht. Acht sind es, als der “Junge im Karton” gefunden wird. Von außen betrachtet sind die beiden nette Leute, denen das Wohl ihrer Zöglinge am Herzen liegt. Doch der private Ermittler Remington Bristow hat das Gefühl, dass mit dem Ehepaar etwas nicht stimmt.

Der Mord an dem unbekannten Jungen liegt vier Jahre zurück, als die Familie umzieht und ihr Haus verkauft. Bristow mischt sich unter die Interessenten. Und wie er es vermutet hat, findet er in einem Zimmer eine Wiege genau derselben Bauart, wie sie in einem jener Kartons verkauft worden war, in der der Tote aufgefunden wurde. Auch der Ententeich im Garten passt zu seiner Theorie. Er sieht praktisch vor sich, wie die Füße und die Hand des Jungen in dem Wasser liegen und langsam aufweichen.

Bristow glaubt, dass die Mutter des unbekannten Jungen die leibliche Tochter der Pflegemutter sein könnte, die sie aus einer früheren Beziehung mitgebracht hat. Womöglich sollte durch das Ablegen der Leiche in der Kiste vertuscht werden, dass die junge Frau ein uneheliches Kind hatte – den Tod des Jungen selbst hält Bristow dagegen für einen Unfall.

Das Grab von “Amerikas unbekanntem Kind” wird bis heute von den Anwohnern gepflegt (Bild: AP Photo/Matt Rourke)
Das Grab von “Amerikas unbekanntem Kind” wird bis heute von den Anwohnern gepflegt (Bild: AP Photo/Matt Rourke)

Wirklich stichfeste Beweise aber kann er nicht finden, und auch der Polizei sind die Hände gebunden. Alle offiziell gemeldeten Schützlinge der Familie sind am Leben, die zahlreichen Verhöre führen zu nichts, das letzte findet im Jahr 1998 statt. Bristow selbst, der sich dem Fall zeitlebens voll und ganz verschrieben hatte, ist zu diesem Zeitpunkt schon fünf Jahre tot.

Und so bekommt er nicht mehr mit, dass auch andere sein Lebensziel, den Mörder doch noch aufzuspüren, weiter verfolgen. 1998 wird die Leiche des Jungen ohne Namen exhumiert. Die Techniken der Polizeiarbeit haben sich weiterentwickelt und aus seinen Zähnen kann zumindest noch Mitochondrien-DNS gewonnen werden, mit der Experten des FBI eine Verwandtschaft feststellen könnten. Bislang haben sie in ihren Datenbanken keine Übereinstimmung gefunden. Aber vergessen haben sie ihn nicht, den “Jungen im Karton”.