Werbung

Unruhen und Tränengas: Lage auf Lesbos bleibt angespannt

Viele Migranten auf Lesbos kämpfen darum, die Insel verlassen zu können. Gleichzeitig errichten die Behörden für sie ein neues, provisorisches Lager. Hilfe kommt unter anderem aus Brandenburg, eine klare Absage an die Migranten dagegen aus Wien.

Die Polizei hat bei Zusammenstößen mit nahe der Inselhauptstadt Mytilini Tränengas eingesetzt.
Die Polizei hat bei Zusammenstößen mit nahe der Inselhauptstadt Mytilini Tränengas eingesetzt.

Lesbos/Athen (dpa) - Am Tag vier nach dem Großbrand, der das Flüchtlingslager Moria auf Lesbos zerstört hat, bleibt die Situation auf der Insel angespannt und unübersichtlich.

Dem griechischen Staatsradio zufolge konnten am Nachmittag die ersten Migranten ein neues, provisorisches Zeltlager beziehen. Doch Tausende stehen weiterhin buchstäblich auf der Straße. Brandenburg hat Hilfslieferungen unter anderem von Feldbetten angekündigt. Österreichs Kanzler Sebastian Kurz lehnte unterdessen eine Aufnahme von Migranten erneut kategorisch ab.

Demonstrationen von Migranten

Im Laufe des Samstags kam es auf Lesbos immer wieder zu spontanen Demonstrationen von Migranten und in der Folge auch zu Zusammenstößen mit der Polizei. Die Migranten warfen mit Steinen, die Polizei setzte Tränengas ein, wie Bilder im griechischen Fernsehen zeigten. Auch seien von den ehemaligen Lagerbewohnern entlang der Straße immer wieder Feuer entzündet worden, berichtete die griechische Nachrichtenagentur ANA-MPA. Inmitten der Auseinandersetzungen und ohne eine Chance, ausweichen zu können: Kinder, Familien mit Kleinkindern und alte Menschen.

Roth bescheinigt Seehofer “Totalversagen” in Moria-Krise

Die Zusammenstöße spielen sich entlang jenes Straßenabschnitts ab, auf dem viele Migranten nach dem Brand gestrandet sind und der nun in beide Richtungen von der Polizei abgesperrt wurde. Die Beamten versuchen, die Menschen daran zu hindern, in die Inselhauptstadt Mytilini zu gelangen. Stattdessen sollen sie in einem neuen, provisorischen Zeltlager untergebracht werden, das seit Freitag auf einem ehemaligen militärischen Schießübungsplatz errichtet wird.

Die ersten Menschen sollen dort nun schon aufgenommen worden sein, berichtete das griechische Staatsradio. Sie würden registriert und sofort einem Corona-Schnelltest unterzogen. Vor dem Brand am Mittwoch waren bereits 35 Migranten positiv auf das Coronavirus getestet worden, im anschließenden Chaos konnten sie aber nicht mehr ausfindig gemacht werden. Die Insel-Onlinezeitung «Sto Nisi» berichtete, dass am Samstag ein 20 Tage altes Baby einer Migranten-Familie aus Afghanistan mit starken Symptomen im Inselkrankenhaus positiv auf Corona getestet und mit seiner Mutter nach Athen in ein Krankenhaus gebracht worden sei.

Brandenburgs Innenminister Michael Stübgen (CDU) kündigte am Samstag im RBB-Inforadio an, jeweils 500 Feldbetten, Schlafsäcke und Wolldecken sowie zehn Stromerzeuger nach Lesbos zu liefern. Zudem bleibe es bei der Zusage, dass über 40 Familien mit kranken Kindern nach Brandenburg kommen könnten, sagte Stübgen. Darüber hinaus seien die Möglichkeiten der Hilfe aber begrenzt.

Österreichs Kanzler lehnt Aufnahme von Migranten ab

Österreichs Kanzler Sebastian Kurz bekräftigte indes trotz politischen Drucks das Nein seiner Regierung zu einer Aufnahme von Menschen aus dem abgebrannten Lager. «Wenn wir diesem Druck jetzt nachgeben, dann riskieren wir, dass wir dieselben Fehler machen wie im Jahr 2015», sagte der konservative ÖVP-Politiker am Samstagmorgen in einer Videobotschaft auf Facebook. In der damaligen Flüchtlingskrise hätten die «schrecklichen» Bilder von Migranten am Bahnhof in Budapest dazu geführt, dass die europäische Politik dem Druck nachgegeben habe. Dann hätten sich mehr Menschen auf den Weg nach Mitteleuropa gemacht, erklärte Kurz.

Röttgen will tausende Migranten aus Moria in Deutschland aufnehmen

Der baden-württembergische Innenminister und stellvertretende CDU-Chef Thomas Strobl wendet sich gegen Forderungen, alle Migranten aus dem abgebrannten griechischen Lager Moria nach Deutschland zu holen. «Wir können nicht alle der mehr als 12 000 Menschen aus dem zerstörten Flüchtlingslager in Deutschland aufnehmen - dann wären die nächsten 12 000 sehr schnell da», sagte er der «Stuttgarter Zeitung» und den «Stuttgarter Nachrichten» (Samstag). «Wir helfen, wollen aber nicht Hoffnungen wecken, die nicht erfüllt werden können.» Strobl äußerte sich «froh über die europäische Verständigung zur Aufnahme von 400 unbegleiteten Minderjährigen aus Moria, nachdem wir schon vor einigen Wochen 460 Minderjährige in andere EU-Staaten gebracht haben».

Kein “falsches Signal senden”

Strobl unterstützte auch die Ankündigung von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) und des zuständigen EU-Kommissars Margaritis Schinas in Bezug auf die Konstruktion eines künftigen Aufnahmelagers: «Dass ein neu zu bauendes Flüchtlingszentrum auf Lesbos unter die gemeinsame Trägerschaft von griechischer Regierung und der EU gestellt werden könnte, ist ein absolut richtiger Ansatz und weist den Weg hin zu einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik, zu der es trotz aller politischen Schwierigkeiten keine gute Alternative gibt.»

Der CDU-Außenpolitiker Jürgen Hardt sagte der «Passauer Neuen Presse»: «Wir wollen nicht das falsche Signal senden, dass der gefahrvolle Weg über das Mittelmeer am Ende automatisch nach Deutschland führt.» Das könne man vielleicht in Einzelfällen akzeptieren. «Es darf aber keine Sogwirkung geben, und 2015 darf sich nicht wiederholen.» Eine solche Sogwirkung könnte kein Landrat oder Oberbürgermeister beherrschen, deshalb liege die Zuständigkeit ja auch beim Bund.

“Historischer Tag”: Afghanische Friedensgespräche beginnen

Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) kündigte an, dass sich Bayern an der Aufnahme von Migranten beteiligen werde. Im Interview mit der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» nannte er es eine «Christenpflicht» zu helfen. «Am besten wäre eine große europäische Lösung. Aber es ist gut, dass Deutschland und Frankreich vorangehen. Andere sollten folgen.»

Aufgeschlüsselt nach Nationalitäten kamen mehr als drei Viertel der Moria-Bewohner aus Afghanistan (77 Prozent). Fast jeder Zehnte war Syrer (8 Prozent). Aus dem Kongo kamen 7 Prozent. Die Chancen auf Schutz sind je nach Nationalität sehr unterschiedlich - zum Beispiel gut für Syrer, deutlich schlechter für Afghanen.

Das Flüchtlingslager Moria war am Mittwoch nach Unruhen und Brandstiftungen fast völlig abgebrannt. Über Nacht wurden dadurch rund 12.000 Menschen obdachlos. Die Migranten wollen nicht in ein neues Lager gebracht werden, sondern weg von der Insel. Auch die Anwohner wehren sich gegen die Errichtung einer neuen Unterkunft.

VIDEO: Verzweiflung nach Brandkatastrophe in Flüchtlingslager Moria