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Unsere Unkultur des Jahres 2016: Das Wegschauen

Bei häuslicher Gewalt wird immer noch viel zu oft weggesehen (Bild: dpa)
Bei häuslicher Gewalt wird immer noch viel zu oft weggesehen (Bild: dpa)

Saudi-Salafisten, Aleppo, Gewalt gegen Frauen: Wo etwas falsch läuft, ducken wir uns – weil es uns nicht betrifft, denken wir. Nur wird uns das später auf die Füße fallen.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Ein paar Legenden über unser Land gehen so: Da wohnen die Problemlöser. Nicht vielleicht die Witzigen vor dem Herrn, aber dafür geradeaus und ehrlich. Verlässlich. Sehen sie einen Missstand, zeigen sie mit dem Finger drauf und ruhen nicht, bis er behoben ist…

Leider ist die Erde kein Baumarkt und wir Deutschen sind keine leidenschaftlichen Hingucker. Eher das Gegenteil.

Wir kennen das vom Straßenverkehr, unterläuft einem ein kleiner Fehler – wegschauen. Sei es eine genommene Vorfahrt, ein zu harter Bremser – wegdrehen. Souverän vermeiden wir jeden Augenkontakt, nach dem Motto: Was ich nicht seh, das ist auch nicht. Man könnte ja Gefahr laufen, sich entschuldigen zu müssen. Was die Kommunikation angeht, sind wir Deutsche wandelnde Kühlschränke.

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Diese holprige Strategie übertragen wir auf die Politik, und da wird es kriminell. Ein paar Beispiele von heute?

Echt dialektisch: Hier laut, dort still

Gern wird über Salafisten gelästert. Salafisten stehen bei der gefühlten Bedrohung ganz oben auf der Liste, und nicht wenige dieser Radikalislamischen wirken tatsächlich nicht zum Wohle unseres Landes: Sie präsentieren sich als Besserwisser, setzen andere Muslime unter Druck, predigen Engstirnigkeit und Ignoranz; ganz zu schweigen von der offenen Flanke hin zum Terrorismus.

Gegenüber Salafisten geben wir uns besorgt und lautstark, drehen ein paar von diesen Kopfhalbstarken auf und verkleiden sich eine Nacht lang als “Scharia-Polizei” wie einmal in Wuppertal, sehen wir das nicht als schlechten Scherz, sondern als Gefahr für Rechtsstaat und Abendland. Geht es aber ans Eingemachte, schauen wir weg.

Wer hofiert die salafistische Szene? Wer baut sie mit Mitteln auf, gegenüber denen der Etat einer Durchschnittsmuslimgemeinde vor Neid erblasst? Wer vernetzt sie, schult sie? Es sind saudische Stiftungen, geduldet und gelenkt vom Regime in Riad, es sind genau jene Hintermänner, deren Schulbücher in saudischen Schulen ebenso benutzt werden wie in der Noch-Hochburg der Terrorgruppe “Islamischer Staat” (IS) in Syrien.

Da könnte man aufschreien: So nicht. Aber es bleibt bei Appellen. Denn Saudis und auch Kuweitis und Qatarer sind strategische Partner. Unter Freunden schaut man halt weg. Die haben Geld, und ohne die gehe angeblich noch weniger; genauso geht die Masche, sich die Gegenwart gemütlich zu reden.

Noch ein Beispiel? Heute brennt Aleppo nieder. Die letzten Rebellen und Zivilisten werden zu fliehen versuchen, und die bisherigen Nachrichten lassen vermuten, dass sie in der Hölle landen – im Inferno des Assad-Staates, mit seinen russischen, iranischen und libanesischen Kumpels. Wer schaut dort hin? Stattdessen diskutieren wir, inwiefern wir russische Außenpolitik verstehen sollen, deren Angst vor uns. Und während wir uns im Verständnisduktus üben, lacht sich Russlands Präsident Wladimir Putin einen und agiert, im Gegenteil zu uns. Er schafft Fakten.

Der Blick drüber hinweg

Noch ein Beispiel? Über den Mord an einer Freiburger Studentin, verübt womöglich von einem afghanischen Geflüchteten, diskutieren wir, als müsse dadurch die “Flüchtlingspolitik” auf den Kopf gestellt werden, als müssten Fehler behoben werden. Dabei ist interessant, wie stark wir auf einen Fall schauen, während wir andere links liegen lassen.

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Die Spiegel-Online-Kolumnistin Margarete Stokowski hat die Zahlen zusammen getragen: Nach einer Auswertung des Bundeskriminalamts (BKA) zu Gewalt in Partnerschaften gab es 2015 rund 127.500 Delikte wie Körperverletzung, Vergewaltigung, sexuelle Nötigung, Bedrohung, Stalking, Mord und Totschlag. “Darunter sind männliche und weibliche, deutsche und nichtdeutsche Opfer und Tatverdächtige. In 82 Prozent der Fälle sind die Opfer weiblich”, schreibt Stokowski. “72 Prozent der erfassten Tatverdächtigen haben einen deutschen Pass.” Im Deutschland des Jahres 2015 gab es 331 weibliche Opfer von versuchtem oder vollendeten Mord oder Totschlag durch den Partner oder Ex-Partner. Das ist fast jeden Tag eine Frau. 131 der Opfer starben, 200 überlebten. Wer berichtet darüber?

Ich glaube nicht, dass es in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern besonders viele solcher Straftaten gibt. Aber uns zeichnet aus: das Wegschauen. Italienische Medien zum Beispiel sind voll mit besorgten Artikeln über den “Femminicidio”, (Tötung von Menschen wegen ihrer Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht) man kennt dieses Wort; dabei sind die Zahlen mit denen in Deutschland vergleichbar. Für die deutsche Sprache musste ich erst im Wörterbuch nachschauen: Es gibt den Begriff “Femizid”. Wann las ich den in deutschen Medien?

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