Ursachen und Auffälligkeiten - Fehltage explodieren: Keine Lohnfortzahlung mehr bei kurzen Krankheiten?

Ein Anruf wegen einer dringenden beruflichen Fragen kann in Ausnahmefällen während einer Krankmeldung erlaubt sein.<span class="copyright">Christin Klose/dpa-tmn</span>
Ein Anruf wegen einer dringenden beruflichen Fragen kann in Ausnahmefällen während einer Krankmeldung erlaubt sein.Christin Klose/dpa-tmn

In Deutschland haben sich die Krankentage deutlich erhöht. In diesem Rahmen werden erste Stimmen laut, die Einschränkungen bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall fordern. Der Sozialforscher Andreas Herteux stellt die aktuellen Zahlen vor und bewertet die Vor- und Nachteile einer Reform.

Sind die Krankheitstage wirklich explodiert?

In Deutschland haben die Krankheitstage 2023 und in den ersten drei Quartalen 2024 statistisch gesehen einen markanten Anstieg erfahren und erreichen neue Rekordwerte. Der durchschnittliche Krankenstand stieg auf 5,5 Prozent im Jahr 2023. Das sind ca. 13 Prozent mehr Krankheitsfälle als im Vorjahr, und eine Analyse der Techniker Krankenkasse (TK) für die ersten neun Monate von 2024 verzeichnete im Schnitt 14,13 Krankentage pro Versicherten.

Ein aktueller ZEW-Bericht, der versucht, viele einzelne Studien zusammenzufassen, diskutiert vier Hauptfaktoren für diese Entwicklung:

  • Die telefonische Krankschreibung: Die Möglichkeit zur telefonischen Krankschreibung, insbesondere bei leichten Atemwegserkrankungen, könnte die Hemmschwelle zu einer entsprechenden Meldung gesenkt haben.

  • COVID-19 und Long Covid: COVID-19 und die längerfristigen gesundheitlichen Folgen von Long Covid sowie vermehrte Infektionen nach dem Ende der Pandemie-Maßnahmen belasten die Krankheitsstatistik noch immer spürbar. Fakt ist in jedem Fall, dass Erkältungen und Atemwegserkrankungen mit etwa 16 Prozent der Fehltage eine signifikante Rolle spielen.

  • Eine starke Sensibilisierung auf Gesundheitsthemen und eine damit verbundene Konditionierung: Die Pandemie und die damit verbundene politische sowie mediale Kommunikation veränderten womöglich mittel- bis langfristig das Verhalten von Arbeitnehmern. Dies könnte die Bereitschaft erhöht haben, sich auch bei leichteren Beschwerden krankzumelden.

  • Indirekt die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU): Die Einführung der eAU hat besonders kurzzeitige Erkrankungen vollständiger und schneller erfasst und liefert damit ein umfangreicheres Bild der Sachlage.

Unzweifelhaft sind die Konditionierung, der sich so gut wie niemand über einen längeren Zeitraum entziehen konnte, und die Atemwegserkrankungen zu nennen. Ob die telefonische Krankschreibung eine Ursache ist oder aber nur eine zufällige Rahmenbedingung, scheint, so sieht es auch der ZEW-Bericht, dagegen schwierig zu verifizieren. Einen Nachweise hierfür gibt es schlicht nicht.

Relevant, und so sehen es auch die Macher, ist vor allem der letzte Punkt; die Erfassungsmethode hat sich geändert, und daher ist es überhaupt nicht sicher, ob es eine signifikante Steigerung gab oder sich lediglich die Dunkelziffer der Fälle, die schon immer existierten, aber nicht erfasst wurden, verkleinert hat.

Trotzdem sind hohe Fehlzeiten ein grundsätzliches Problem und an dieser Stelle sei es empfohlen, den Blick auf andere Auffälligkeiten zu lenken.

Welche weiteren Auffälligkeiten bei den Krankschreibungen gibt es?

Besonders auffällig sind die hohen Krankheitsfälle in unterschiedlichen Altersgruppen. So weisen jüngere Arbeitnehmer überdurchschnittlich viele Krankheitsmeldungen auf, während ältere Beschäftigte tendenziell seltener dazu neigen.

Die Gruppe bis 29 Jahre sticht bei vielen Erhebungen förmlich hervor, wobei die Spitze bis zum Alter von 24 Jahren anzusetzen ist. So langsam ab 30, spätestens ab 35 Jahren, sind die Unterschiede zu denen, die in der Mitte oder am Ende des Berufslebens stehen, dann eher gering bis teilweise nicht mehr vorhanden.

Wir haben daher bei Krankmeldungen offensichtlich ein Generationenproblem. Bei diesem sollte man auch weniger auf Gesundheitsfaktoren, sondern vielmehr auf Auswirkungen einer, nicht selten digitalen, Konditionierung achten, welche die persönliche Selbstentfaltung oft über wünschenswerte gesellschaftliche Normen und Verhaltensmuster stellt. Oder einfacher: Die jüngeren Leute haben – und dies ist völlig wertneutral betrachtet - im Mittel deutlich verschobene Prioritäten sowie ambivalente Vorstellungen von der richtigen Work-Life-Balance.

Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass heute, je nach Datenlage, bis zu. 1,2 Millionen junge Menschen bis 29 Jahren, etwas salopp gesagt, nichts machen. Die ideelle Generationslücke sollte daher ein viel größere Thema sein, als sie es im Moment ist.

Die Herausforderungen in diesem Bereich gehen daher weit über das Thema Krankmeldungen hinaus, bedürfen einer tieferen Analyse und eine Verkürzung wäre schlicht fatal.

Eine weitere Auffälligkeit findet sich bei den Berufsgruppen. Beispielsweise liegen Altenpflege- und Kinderbetreuungsberufe deutlich über dem Durchschnitt mit 7,4 Prozent bzw. 7,0 Prozent Krankenstand.

Ein besonders starker Anstieg ist zudem bei psychischen Erkrankungen festzustellen: Fehlzeiten aufgrund von psychischen Belastungen wie Depressionen und Angststörungen stiegen um 7,4 Prozent.

Sollte die Lohnfortzahlung teilweise gestrichen werden?

Grundsätzlich ist anzumerken, dass Ausfälle, insbesondere in einer Zeit des Fachkräftemangels, oft ein gravierendes Problem für Unternehmen sowie Einrichtungen darstellen, das weit über den finanziellen Aspekt hinausgeht. Man denke hier beispielsweise an ein Krankenhaus, bei dem womöglich die Funktionsfähigkeit leidet.

Seit den 90ern gibt es daher immer wieder Vorschläge wie das Streichen von Karenztagen, also die Einführung eines Zeitraums zu Beginn einer Krankheitsphase, in dem keine Lohnfortzahlung erfolgt, oder alternativ Vorschläge, wie eine Absenkung des Lohnes im Krankheitsfall auf 70 bis 80 Prozent.

Selbstverständlich könnte nun argumentiert werden, dass einerseits Kosten gespart werden und andererseits ein Anreiz gegeben wird, sich nicht vorschnell krankzumelden. Das ist auch die gängige Argumentation.

Leider macht es wenig Sinn, die Auswirkungen solcher Maßnahmen derartig einseitig zu betrachten; es lohnt sich immer, einen umfänglicher Blick, der auch psychologische, gesellschaftliche, ökonomische sowie politische Faktoren mit einschließt:

  • In anderen europäischen Ländern, in denen Karenztage verbreitet sind, wie beispielsweise Schweden, gibt es Hinweise darauf, dass Arbeitnehmer in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen oder mit niedrigen Einkommen besonders stark belastet sind. Es wird daher Krankheit, so paradox es klingen mag, durch Krankheitsvermeidung erst erzeugt. Langfristig erhöht dies daher, so die Ausarbeitungen, das soziale Ungleichgewicht, senkt die Volksgesundheit und könnte auch in Deutschland die soziale Spaltung verschärfen. In Ländern ohne Karenztage oder mit großzügiger Lohnfortzahlung zeigen Studien hingegen, dass sich weniger „Präsentismus“, also der Druck, trotz Beschweren zur Arbeit zu gehen, und ein besserer allgemeiner Gesundheitszustand der Bevölkerung einstellen.

  • Psychologisch gesehen könnte eine Reduzierung der Lohnfortzahlung auch als Bestrafung angesehen werden, die zu erhöhtem Stress und Unsicherheit führen müsste. Das wiederum würde den Einzelnen in einer sowieso unruhigen und zersplitterten Gesellschaft noch weiter von den Entscheidungsträgern entfremden und vor allem auch das Gerechtigkeitsempfinden tangieren. Nicht zu Unrecht, denn wie wir gesehen haben, verteilen sich die Krankmeldungen durchaus ungleich in der Bevölkerung. Eine Verschärfung der Milieukämpfe wäre durchaus denkbar.

  • Für Beschäftigte würde das Streichen der Karenztage bedeuten, dass bereits bei kurzfristigen Erkrankungen Einkommensverluste entstehen, was vor allem Arbeitnehmer in niedrigen Einkommensgruppen empfindlich treffen würde. Im Durchschnitt wäre dies eine Lohnkürzung. Das wiederum könnte mehrere negative Effekte nach sich ziehen, wie z. B. einen schwindenden Abstand zu Sozialleistungen oder aber zu mehr gesundheitlichen Problemen und chronischen Krankheiten, da Arbeitnehmer angeschlagen ihre Tätigkeit aufnehmen und damit zur Gefahr für sich und andere werden.

  • Die verringerte Lohnfortzahlung könnte zudem die Attraktivität bestimmter Berufe weiter senken, besonders in Branchen mit hohen körperlichen und psychischen Anforderungen, wie der Pflege und Bildung. Diese würden dann womöglich weiter Personal verlieren. Auch andere Bereiche wie das Handwerk würden so unattraktiver.

  • Politisch gesehen würde eine Kürzung der Lohnfortzahlung das traditionelle soziale Sicherungsmodell angreifen und wahrscheinlich auf erheblichen Widerstand stoßen. Die gesetzliche Lohnfortzahlung ist ein fundamentaler Teil des deutschen Sozialsystems und schützt Arbeitnehmer vor den finanziellen Folgen von Krankheiten. Im Gegensatz zu vielen anderen unpopulären Maßnahmen würde ein solches Vorgehen jeden Arbeitnehmer treffen, und es ist auch für Jedermann leicht zu begreifen. Es ist eher nicht anzunehmen, dass irgendeine Partei solche Vorschläge forcieren würde. Zumindest nicht im Wahlkampf.

Die Liste ist sicher nicht vollständig, zeigt aber bereits jetzt, dass das Risiko größer wäre als der Nutzen.

Machen die Vorschläge daher keinen Sinn oder wären sogar kontraproduktiv?

Deutschland befindet sich grundsätzlich und auf allen Ebenen, sei es ökonomisch, politisch oder gesellschaftlich, in einer schwierigen Situation.

Es mag sein, dass die genannten Vorschläge in anderen Gesamtsituationen diskutabel sein könnten.

In der aktuellen sind sie es nicht. Dies würde nur direkt und indirekt die bereits bestehenden Probleme verschärfen, zugleich aber zu wenig zu irgendeiner Lösung beitragen.

Schon der Gedanke, dass sich ein solcher Eingriff nicht auch zu einem populären, vielleicht populistischen sowie zersetzenden Flächenbrand entwickeln könnte, wäre von einer Naivität getragen, der sich kein denkender Mensch ziemen sollte.

Am Ende wäre es die hart arbeitende Bevölkerung, welche am Ende die Rechnung zahlen soll und das für Gesamtumstände, die nicht durch sie geschaffen wurden. Diese ist bereits überproportional belastet und sollte gestützt, nicht weiter beschwert werden.