Ursachenforschung - Terror-Experte erklärt, warum der IS in Deutschland und Europa immer stärker wird
Die Bedrohung durch den IS in Deutschland und Europa hat in den letzten Jahren zugenommen. Terrorismus-Profi Hans-Jakob Schindler beleuchtet die Gründe für diese Entwicklung und diskutiert die aktuellen Herausforderungen im Kampf gegen den internationalen Terrorismus.
Wie ist die aktuelle Bedrohungslage durch den IS in Europa im Vergleich zu den vergangenen Jahren einzuschätzen?
Die Bedrohungslage des IS für Europa und Deutschland ist aktuell höher als in den letzten Jahren. Dies wird durch drei Faktoren beeinflusst.
Zunächst erlebte der IS nach der Niederlage des sogenannten Kalifats in Syrien und des Iraks seit 2019 eine stetige Expansion. Insbesondere auch in Westafrika, wo der IS zwei sehr starke Ableger unterhält. Das Terrornetzwerk vergrößerte seinen Einfluss durch territoriale Expansion, legte bei der Anzahl der Kämpfer und finanziellen Einnahmen zu. In Afghanistan, welches seit August 2021 wieder unter der Kontrolle der Taliban ist, hat sich der Druck der Taliban auf den dortigen Ableger, IS Provinz Khorasan (ISPK) seit 2022 erheblich reduziert. 2021 und 2022 versuchte ISPK das Taliban-Regime durch stetige Terroranschläge zu destabilisieren.
Seit 2022 konzentriert sich ISPK auf Anschläge im Ausland. Mit diesen Strategiewechsel sank auch der militärische Druck der Taliban auf ISPK. Dass ein großer Anteil der ISPK-Kämpfer ehemalige Angehörige der Taliban sind, bedeutet, dass es komplexes Konkurrenzverhältnis zwischen den Taliban und ISPK besteht und daher die Taliban immer damit rechnen müssen, dass ein zu forsches Vorgehen gegen ISPK zu Überläufern aus den eigenen Reihen führen wird. In Syrien und dem Irak steigen die Anschläge von Kern-IS stetig. Dies ist Ausdruck der weiterhin bestehenden politischen Instabilität in beiden Ländern. Weiterhin ist der militärische Druck auf den IS auch in Westafrika seit 2023 signifikant gesunken. Auch dort haben sich internationalen Truppen zurückgezogen. Da internationale Truppen in keinem dieser Krisengebiete mehr in signifikanter Anzahl operieren, steht dem weiteren Erstarken des IS kaum Gegenwehr gegenüber.
Schließlich ist der IS seit Oktober 2023 unter Druck, seiner Anhänger, Sympathisanten und Spendern zu demonstrieren, dass die Organisation weiterhin relevant ist. Die internationale Berichterstattung konzentriert sich seit fast einem Jahr ausschließlich auf Hamas, Hisbollah und den Huthis im Jemen. Der IS muss durch Anschläge beweisen, dass es als Netzwerk weiterhin internationale „Beachtung“ erzielen kann. Der Anschlag in Moskau im März, die versuchten Anschläge auf die Taylor-Swift-Konzerte in Wien Anfang August und der aktuelle Anschlag in Solingen sind Teil dieser Bemühungen des IS.
Wie wahrscheinlich sind groß angelegte Anschläge des IS im Westen in naher Zukunft, und welche Länder sind besonders gefährdet?
Der Terroranschlag in Solingen ist Teil einer anhaltenden Kampagne des IS. Diese ist durch die größeren operativen Freiheiten des Terrornetzwerks in seinen Kerngebieten Syrien, Irak, Afghanistan und Westafrika begründet und durch den Konflikt im Nahen Osten befeuert.
Eine erstaunliche Anzahl von IS-Anhängern wurden in den letzten zwei Jahren in Deutschland und Europa verhaftet. Dies ist natürlich auch ein Ergebnis der erhöhten Sicherheitsvorkehrung während den Vorbereitungen und der Durchführung der EM und der Olympischen Spiele. Dennoch scheint klar zu sein, dass der IS mit aller Kraft versucht, sich durch Anschläge im Ausland als die dominierende internationale Terrororganisation zu positionieren. Diese Kampagne scheint als operativen Schwerpunkt aktuell Europa im Blick zu haben.
Es werden dabei drei taktische Ansätze verfolgt: inspirierte, angeleitete und organisierte Anschläge.
Bei inspirierten Anschlägen reagieren Täter auf IS-Propaganda, welche schon seit 2017 Anhänger und Sympathisanten in aller Welt dazu aufruft, nicht mehr in Konfliktregionen zu reisen, sondern Anschläge in ihren Heimatländern zu verüben. Der Attentäter setzt sich bei inspirierten Anschlägen nur kurz vor der der Tat mit IS in Verbindung und übersendet Videos mit seinem Loyalitätseid und seinem Bekenntnis zur Tat an den IS. Die Organisation übernimmt dann im Anschluss der Tat die Verantwortung, was in der Regel einige Zeit in Anspruch nimmt, da der IS keine Vorabinformation über die Tat hatte.
Bei angeleiteten Anschlägen setzten sich Attentäter vor ihrer geplanten Tat mit dem IS in Verbindung und erhalten über das Internet, die Sozialen Medien und Messenger-Diensten Anleitungen in Bezug auf die Vorbereitung und Durchführung des Anschlages. Aktuell steht eine Gruppe von Tadschiken in Deutschland vor Gericht.
Bei organisierten Anschlägen rekrutiert und trainiert der IS-Attentäter im Ausland und sendet diese nach der Vorbereitung ins Zielland, um dort den Anschlag auszuführen. Der Anschlag in Moskau im März fällt in diese Kategorie.
Angeleitete und organisierte Anschläge resultieren immer in höheren Opferzahlen, da das Anschlagsszenario komplexer ist, als dies bei inspirierten Anschlägen der Fall ist. Jedoch ist aufgrund der intensiven Kommunikation zwischen Attentätern und dem IS in der Vorbereitung das Entdeckungsrisiko wesentlich erhöht.
Wie hat sich der Rückzug des Westens aus den Kerngebieten des IS auf die operative Kapazität der Terrorgruppe ausgewirkt?
Der Rückzug des Westens aus den Gebieten in welcher der IS in den letzten Jahren enorm gewachsen ist, verschafft dem Terrornetzwerk sehr viel mehr operativen Spielraum als es bis 2019 der Fall war. Die Organisation ist seither weniger mit ihrem Überleben seiner Strukturen beschäftigt und kann sich wieder mehr auf die Vorbereitung und Durchführung von Anschlägen im Ausland konzentrieren.
Der IS strebt im Unterschied zu Al Qaida (maßgebliches Ziel: Terroranschläge im Ausland), auch die Wiedererrichtung eines physischen Kalifats an. Das Kernelement der IS-Strategie ist internationaler Terrorismus. Daher ist militärischer Druck auf IS-Kerngebiete ein wichtiges Element seiner Bekämpfung. Da dieser nach der Reduzierung der militärischen Operationen gegen den IS im Nahen Osten ab 2019, den Rückzug der internationalen Truppen aus Afghanistan 2021 und seit 2023 aus Westafrika wesentlich geringer ist, hat sich die Terrorismusbekämpfung im Wesentlichen ins Inland verlagert.
Daher ist es nun von hoher Dringlichkeit, die deutschen Polizei und Sicherheitsbehörden mit den entsprechenden rechtlichen Befugnissen, neuer Technologie und mehr Personal auszustatten. Dies bezieht sich auch auf Möglichkeiten, Vorgänge im Internet, den Sozialen Medien und Messenger-Diensten effektiver als bislang zu überwachen und Daten längerfristig zu speichern und diese mittels künstlicher Intelligenz (KI) zu analysieren.
Die seit einigen Jahren vorgenommene Verschiebung Richtung Daten- und Individualschutz sollte überdacht werden und der Allgemeinschutz stärker in den Vordergrund gestellt werden. Diese erweiterten Befugnisse und Fähigkeiten der deutschen Polizei- und Sicherheitsbehörden wären auch bei der Abwehr russischer Spionage- Sabotage sowie Mis- und Desinformationskampagnen hilfreich und können daher auch als Teil der sogenannten Zeitwende der deutschen Sicherheitspolitik verstanden werden.
Welche Rolle spielen Spenden von Unterstützern im Westen für die Finanzierung des IS, und wie könnten solche Finanzierungsströme effektiver überwacht und unterbunden werden?
Der IS hat seit dem Ende des sogenannten Kalifats in Syrien und Irak ein auf mehrere Regionen verteiltes Finanznetzwerk aufgebaut. Dabei spielen natürlich auch weiterhin Spenden aus dem Westen, inklusive Deutschland eine Rolle. Jedoch sind diese nur eine von mehreren Einnahmequellen zu denen auch Einnahmen aus Entführungen in Afghanistan, Schmuggelgeschäften in Afrika, der Ausbeutung von Rohstoffen und Zwangssteuern der Bevölkerungen in Gebieten, welche IS in Westafrika kontrolliert in Westafrika sowie letzte Finanzmittel aus der Zeit des sogenannten Kalifats gehören.
Die aktuelle internationale Terrorkampagne des IS ist ebenfalls ein Versuch, Einnahmen zu erhöhen, da Anschläge wie Moskau und Solingen den Unterstützern des Terrornetzwerkes die Relevanz des IS demonstrieren sollen. Aktuell stehen in Deutschland eine Gruppe von IS-Unterstützern vor Gericht, welche in den letzten Jahren sehr gezielt über Soziale Medien Gelder für IS-Anhänger gesammelt haben, die im Lager Al-Hol in Syrien inhaftiert sind. Dies zeigt, dass auch hier in Deutschland der IS versucht, Soziale Medien und Messenger-Dienste zu nutzen, um Gelder von seinen Unterstützern zu erhalten.
Bei Einnahmen von Spenden aus dem Ausland spielen das Internet, Soziale Medien und Messenger-Dienste eine entscheidende Rolle. Leider sind die Anbieter solcher Plattformen bei der Erkennung und Verhinderung solcher Spendenaktionen weiterhin nicht effektiv. Zu lange zogen sich die großen internationalen Plattformen auf den Standpunkt zurück, dass sie für dieses Thema nicht zuständig seien, da lediglich Informationen und keine Geldströme über ihre Systeme laufen.
Daher bestehen auch bei den größten globalen Plattformen keine technischen Kapazitäten, welche Spendenaktionen von Terrorgruppen erkennen und verhindern könnten. Hier muss ein Umdenken einsetzten und diese Plattformen in die Abwehr solcher Aktionen aktiv eingebunden werden.
Ohne rechtliche Verpflichtung werden diese Plattformen dazu leider nicht bereit sein. Daher sollte überlegt werden, die Verpflichtung rechtlich zu verankern und mit bei Missachtung mit hohen Geldstrafen zu ahnden. Dies ist seit Jahrzehnten im Finanzsektor bereits der Fall und hat zu einer wesentlichen Verbesserung in der Zusammenarbeit zwischen Banken, Polizei- und Sicherheitsbehörden geführt.
Was bedeutet die Rekordstrafe gegen Binance für die zukünftige Regulierung von Kryptowährungen im Zusammenhang mit Terrorfinanzierung?
Die Rekordstrafe gegen Binance ist ein wirklicher Meilenstein. Sie wird hoffentlich zu einer wesentlichen Verbesserung der Abwehr von Terrorismusfinanzierung in der Kryptoindustrie führen. Wie immer bei neuen Technologien waren Terroristen unter den ersten, welche Kyptowährungen für sich nutzten.
Neben Hamas experimentiert auch der IS seit spätestens 2019 mit Kryptowährungen. In den letzten Jahren hat sich diese Technologie neben den Finanzstrategien islamischer Terrororganisationen auch bei der Finanzierung des Rechtsextremismus in Europa und den USA etabliert. Vorteil der Technologie ist der weltweite Zugang, welcher lediglich ein Smartphone, Tablet oder Laptop sowie eine Internetverbindung benötigt.
Die Möglichkeit auch neue Krytpowährungen, die sogenannten Privacy Coins, wie zum Beispiel Monero, zu nutzen bietet einen weiteren Vorteil. Die erhöhte Kryptierung dieser Währungen erschwert die Aufklärung. Binance als weltweit größter Anbieter von Kryptodienstleistungen spielt in den globalen Kryptonetzwerken natürlich eine zentrale Funktion.
Leider argumentierte die Kryptoindustrie bis vor einigen Monaten, dass Terrorismusfinanzierung in ihren Geschäften kaum eine Rolle spiele. Dies ändert sich aktuell. Dazu hat auch die Strafzahlung von Binance beigetragen. In dieser Industrie gibt es jedoch im Vergleich zu klassischen Finanzindustrie noch einigen Aufholbedarf, soweit des die Abwehr von Terrorismusfinanzierung, Geldwäsche und sonstiger Finanzkriminalität betrifft.
Die Europäische Union entwickelt die Regulierung dieses Industriesektors fortlaufend weiter. Jedoch entwickelt sich die Kryptotechnologie weiterhin schneller als das regulatorische Umfeld, so dass es auch in Zukunft entscheidend auf die Eigenverantwortung von Krytpofirmen ankommen wird. Neben der effektiveren Kundenindentifikation muss sich auch die interne Beobachtung der Transaktionsmuster, die sogenannte Blockchainanalysis verbessern, um bessere Erfolge zu erzielen.