Vermissten-Spezialist Peter Jamin - Flutkatastrophe im Ahrtal: Bericht enthüllt Chaos bei Suche nach Vermissten

Der Untersuchungsbericht zur Flutkatastrophe im Ahrtal enthüllt, wie schlecht Behörden und Helfer im Katastrophenfall für die Suche nach Vermissten vorbereitet sind.<span class="copyright">Getty Images/Thomas Lohnes</span>
Der Untersuchungsbericht zur Flutkatastrophe im Ahrtal enthüllt, wie schlecht Behörden und Helfer im Katastrophenfall für die Suche nach Vermissten vorbereitet sind.Getty Images/Thomas Lohnes

Mehr als 4000 Vermisste – und keinen Plan. Der Untersuchungsbericht zur Flutkatastrophe im Ahrtal enthüllt, wie schlecht Behörden und Helfer im Katastrophenfall für die Suche nach Vermissten vorbereitet sind. Eine Analyse von Vermissten-Spezialist Peter Jamin.

Am 2. August 2024 wurde der mehr als 2100 Seiten umfassende Flutuntersuchungsbericht des parlamentarischen Untersuchungsausschusses des Landesparlaments von Rheinland-Pfalz der Öffentlichkeit im Internet zugänglich gemacht. Ich habe noch am Morgen der Veröffentlichung begonnen, den Bericht unter den Aspekten der Suche und Betreuung der Vermissten und der Situation ihrer Angehörigen während dieser Flutkatastrophe durchzuarbeiten – und war entsetzt über die Planlosigkeit und das Chaos in Behörden und bei Helfern.

Die Situation der Vermissten und ihrer Angehörigen und die Organisationsprobleme und -fehler bei Behörden und Helfern in Deutschland liegen mir schon seit mehr als 30 Jahren am Herzen. Seit der verheerenden Tsunami-Flutkatastrophe in Südostasien im Jahre 2004 mit Tausenden von Vermissten und erst recht seit der Flutkatastrophe an der Ahr mit mehr als 4000 Vermissten, habe ich zunehmend auch die Probleme bei Katastrophen im Blick.

Eine nationale Vermisst-Website

Bereits eine Woche nach der Ahrtal-Katastrophe im Juli 2021 habe ich mich mit einem Vorschlag unter anderem an die damalige Bundeskanzlerin Merkel, den damaligen NRW-Ministerpräsidenten Laschet und Ministerpräsidentin Dreyer aus Rheinland-Pfalz gewandt. Ich bat sie, sich für die Einrichtung und Betreuung einer nationalen Vermisst-Website einzusetzen.

Eine solche Vermisst-Website könnte in normalen Zeiten ein wichtiges und dringend notwendiges Informations- und Beratungsmedium für die Angehörigen der mehr als 120.000 bei der Polizei jährlich deutschlandweit registrierten Vermissten sein. Im Katastrophen-Fall gäbe es damit innerhalb kürzester Zeit eine wichtige Informationsplattform für die aktuell im Katastrophengebiet vermissten Bundesbürger*innen, ihrer Angehörigen und auch der Behörden und Retter.

Großes Chaos laut Abschlussbericht

Wenn man sich auch nur die Passagen des Abschlussberichtes des RP-Untersuchungsausschusses zum Thema „Vermisste“ betrachtet, ahnt man, in welch einem Chaos-Zustand sich die Polizeidienststellen und andere Behörden wie auch die Hilfsorganisationen befanden. Da heißt es etwa unter Punkt 6299: „Dazu habe es einen weitgehenden Ausfall der kommunalen Verwaltungsstrukturen gegeben durch die hohe Betroffenheit der Kolleginnen und Kollegen in den Behörden. Die Verbandsgemeinde Altenahr sei im Grunde die ersten Tage nicht mehr existent gewesen, das Rathaus sei zerstört gewesen“.

Da wird sofort klar, wie wichtig hier Anweisung und Tipps zur Selbsthilfe für die Opfer und Vermissten der Flutkatastrophe etwa auf einer Vermisst-Website gewesen wären. Untersuchungsbericht Punkt 6300: „Der Zeuge W. resümierte, man sei gewohnt, eine Chaosphase von einer halben Stunde zu haben. In diesem Fall habe die Chaosphase mindestens etwa eine halbe Woche angedauert“.

Vermissten-Zahl stieg stündlich

Weiter heißt es im Bericht: „Es sei einfach nur schrecklich gewesen. Die Zahl der vermissten Personen sei stündlich gestiegen. Die T. habe berichtet, dass immer noch sehr, sehr viele Menschen von Dächern gerettet werden müssten. (…) Am schlimmsten sei für sie der stündliche Anstieg der Zahl der Toten und Vermissten gewesen“.

Es kam offensichtlich in Verlauf der Rettungsmaßnahmen zu erschütternden Szenen: „… In (der Gemeinde, d.A.) Schuld hätten sechs Häuser eingestürzt sein sollen, Personen würden vermisst und sie hätte keine Kenntnis zu Personen- oder Sachschäden, diese seien aber zu befürchten. Auch habe Frau S. telefonisch mitgeteilt, der rheinland-pfälzische Hubschrauber habe abdrehen müssen, weil man den Menschen nicht unnötig habe Hoffnung auf Rettung machen wollen …“.

Das Lagebild war unübersichtlich

Offenbar war auch das Lagebild der Behörden zur Situation von Vermissten vollkommen unübersichtlich „wenn es zum Beispiel um die Zahl der Vermissten gehe. Wenn fünf Meldungen eingingen, könne das ein und derselbe Fall sein, oder fünf verschiedene. An diesem Tag des 15. Juli 2021 habe es ein hohes Interesse an belastbaren Informationen gegeben, nicht nur von der Hausspitze, sondern auch von den Medien und der Öffentlichkeit. Man habe diesem Informationsbedürfnis gerecht werden, aber auch keine ungesicherten Informationen in die Welt streuen wollen. Das Lagebild sei an diesem Morgen sehr unübersichtlich gewesen“.

Dabei waren insbesondere detaillierte Informationen für Angehörige und ihre Vermissten besonders wichtig. Originalton Untersuchungsbericht: „Weiter legte der Zeuge P. dar, in der Anfangsphase habe man festgestellt, dass insbesondere Menschen bei der Hotline angerufen hätten, die Vermisste gehabt und nicht gewusst hätten, wo ihre Angehörigen seien.“

4000 Vermisste und 135 Tote

Der Zeuge W. führte – laut Untersuchungsbericht Punkt 6292 – zur vorgefundenen Einsatzlage aus, „man habe eine Einsatzlage vorgefunden, die es in der Bundesrepublik seines Wissens seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben habe und die seines Wissens auch von keinem anderen Bundesland in irgendeiner Art und Weise vorgeplant gewesen sei“.

Es habe sich bei der Flutkatastrophe „um das größte Schadensereignis, das in der Bundesrepublik überhaupt stattgefunden habe, gehandelt, mit einer Ausdehnung von 40 Kilometern, mit 40.000 Betroffenen, mit über 4.000 Vermisstenmeldungen, mit weit über 4.000 Einsatzkräften pro Tag, die im Ahrtal versucht hätten, den Menschen zu helfen“.

Kaum Kommunikationsmöglichkeiten

Der Abschlussbericht spricht von einer „mit Abstand größten Katastrophe der Landesgeschichte (Rheinland-Pfalz, d.A.), mit 135 Toten, anfänglich tausenden Vermissten, 670 Verletzten, massenhaften und massiven Traumatisierungen, riesigen Schäden an Häusern, öffentlichen Einrichtungen, Versorgungsleitungen (Wasser, Strom, Gas, Kommunikation, Abwasser), Wegen, Straßen, Brücken. 18.000 Menschen waren unmittelbar betroffen, viele Tausende zerstörte Häuser, kaum Kommunikationsmöglichkeiten, schwierige verkehrliche Erreichbarkeiten der Einsatzorte“.

In Ihrem Antwortschreiben an mich im September 2021 versuchte das Bürgerbüro der Ministerpräsidentin Malu Dreyer zu beruhigen: Bei „normalen Vermisstenfällen finde eine lageangepasste und individuell auf die Bedürfnisse der Angehörigen zugeschnittene Betreuung statt.“

Das bestreite ich, denn die Polizistinnen und Polizisten in Rheinland-Pfalz sind wie in allen Bundesländern weder auf Sozialarbeit vorbereitet noch dafür ausgebildet. Bei rund 5500 Vermissten und dementsprechend rund 25.000 nahen Angehörigen im Jahr allein im Land RP dürfte die Handvoll speziell geschulter Opferberater der Polizei, die auch bei Vergewaltigungen, Kindesmissbrauch, Überfällen und anderen Straftaten den Opfern helfen, völlig überfordert gewesen sein.

Keine Spur vom Kriseninterventionsteam

„Im Zusammenhang mit der Flutkatastrophe im Ahrtal“, so schrieb mir im September 2021 die Landesregierung Rheinland-Pfalz, „steht sowohl für die Angehörigen von Vermissten als auch für vom Hochwasser Betroffenen neben der Betreuung vor Ort durch Kriseninterventionsteams (zum Beispiel Notfallseelsorge Mayen-Koblenz e. V.) ein vielfältiges und umfassendes Internetangebot der Landesregierung und nachgeordneter Behörden, wie der Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion, der Polizei Rheinland-Pfalz und der Kreisverwaltung Ahrweiler zur Verfügung.“ In der ersten Phase der Flutkatastrophe hatten die betroffenen Opfer davon aber wenig.

Das hat sich auch bis heute nicht geändert. Ich machte am 4. August 2024 Stichproben und suchte im Internet nach Angeboten für Angehörige von Vermissten in Rheinland-Pfalz. Selbst auf dem Internetportal der Landesregierung fand ich unter den Stichworten „Vermisste“ und „Hotline“ zwar viele nette Texte, aber keine Informationen zu Hilfsangeboten. Solche Mangellagen zeigen mir immer wieder, wie wenig ernst Deutschlands Behörden das Thema „Vermisste Menschen und die Situation ihrer Angehörigen“ nehmen.

Ich frage mich auch: Wo waren die Kriseninterventionsteams während der Flutkatastrophe? Im 2100 starken Untersuchungsbericht des Landtags Rheinland-Pfalz tauchen sie nur an einer Stelle auf. Mein Fazit: Ich halte es angesichts der immer größeren Katastrophen im Verlauf eines stärker werdenden Klimawandels für besonders wichtig, eine nationale Internetseite für Vermisste einzurichten.

Auch Beratung für Alltagsvermisste fehlt

Für die normalen Vermissten unseres Alltags, mehr als 90.000 Kinder und Jugendliche und mehr als 30.000 Erwachsene bundesweit jährlich, wäre massiv mehr an Beratung und Betreuung ohnehin seit Jahrzehnten notwendig.

Die Angehörigen benötigen u. a. Tipps zur Selbsthilfe in Fragen von Bankgeschäften, Versicherungen, den Umgang mit Arbeitgebern, Todeserklärungen und viele anderen Themen mehr, die ich in meinem Buch „Vermisst-Ratgeber für Angehörige“ beschrieben habe. Zum Angebot sollte möglichst auch eine Gesprächstherapie zur Stabilisierung ihrer Psyche gehören.

Kein Webangebot der RP-Landesregierung

Nichts davon befand sich im Angebot der Landesregierung nach der Katastrophe. Oft habe ich den Eindruck, dass sich in Deutschlands Behörden noch nie ein Mitarbeiter ernsthaft mit der Situation von Angehörigen von Vermissten befasst hat. Ich kenne auch nicht einen Beamten, von dem ich in den vergangenen Jahrzehnten eine Ausarbeitung zu den sozial-familiären und persönlichen Problemen von Angehörigen von Vermissten gelesen hätte.

Aber insbesondere, wenn sich Menschen in einer Katastrophensituation befinden, ist umfassende und schnelle Information besonders wichtig. Wenn man sich in einer psychischen Notlage und einem organisatorischen Chaos befindet, will man so schnell wie möglich wissen, wie es den Familienangehörigen geht. Und vor allem erfahren, was man selbst tun kann.

Es spielt keine Rolle, ob ein Mensch fünf Stunden oder fünf Tage verschwunden ist. In jeder Minute leiden die Angehörigen große seelische Qualen. Da ist ein Bangen und Hoffen und vor allem diese Ungewissheit – lebt die vermisste Person oder ist sie in der Katastrophe umgekommen?

Merkel, Laschet und Jarzombek schwiegen

Wie ernst Politiker die Maßnahmen zur Unterstützung von Katastrophen-Vermissten und Alltagsvermissten und ihrer Angehörigen nehmen, mag man an den Reaktionen auf meine Eingabe von Juli 2021 beurteilen.

Außer der RP-Ministerpräsidentin Mannu Dreyer meldete sich keiner der von mir Angeschriebenen: Bundeskanzlerin Merkel, NRW-Ministerpräsident Laschet, der damalige „Beauftragte für digitale Wirtschaft und Start-ups des Bundeswirtschaftsministeriums“, Düsseldorfs MdB Thomas Jarzombek, und Düsseldorfs Oberbürgermeister Dr. Stephan Keller.

Der ebenfalls von mir zur Kenntnisnahme angeschriebene Emder Oberbürgermeister Tim Kruithoff musste sich nicht melden: In seiner Stadt gibt es die erste und einzige „Kommunale Beratungsstelle für Angehörige von Vermissten“ in Deutschland sowie eine Initiative namens „VerNie – Vermisst in Niedersachsen“. Sollte es in Emden und Umgebung zu einer Sturmflut vom Ausmaß der rheinland-pfälzischen Flutkatastrophe kommen, wissen die Bürgerinnen und Bürger, wer ihnen helfen kann.