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"Verschwörungstheorien sind eine ernsthafte Bedrohung"

Auf den ersten Blick wirken viele Verschwörungstheorien lächerlich. Doch warum glauben trotzdem viele Menschen an diese Thesen? Und warum erleben sie während der Corona-Pandemie Hochkonjunktur? Fragen, denen "Terra X"-Moderator Dirk Steffens in einer neuen TV-Dokumentation auf den Grund geht.

"Verschwörungstheorien sind eine ernsthafte Bedrohung"
"Terra X"-Moderator Dirk Steffens.

Seit die Corona-Pandemie Deutschland und die Welt fest im Griff hat, sprießen sie in regelmäßigen Abständen wie Pilze aus dem Boden: Verschwörungstheorien. Mal meinen Menschen, Bill Gates oder die Impfmafia stecke hinter dem Coronavirus, andere halten die Krankheit gleich von vornherein für eine Erfindung. Doch so wirr oder albern manche These auch klingen mag: Verschwörungstheorien können sehr gefährlich werden und sogar die Demokratie gefährden, da ist sich Dirk Steffens sicher. Für die ZDF-Dokumentation "Ein Fall für Lesch und Steffens - Streiten für die Wahrheit" (Sonntag, 18. Oktober, 19.30 Uhr) hat sich der Wissenschaftsjournalist gemeinsam mit "Terra X"-Kollege Harald Lesch mit Verschwörungstheorien sowie deren Entstehung und Auswirkungen beschäftigt.

teleschau: Im vergangenen halben Jahr hat sich die Welt durch die Corona-Pandemie um 180 Grad gedreht. Ein Aspekt dieser Krise sind Verschwörungstheorien. Wie beunruhigend sehen Sie diese Vielzahl an Verschwörungstheorien?

Dirk Steffens: Die einzelnen Verschwörungstheorien mögen uns abseitig und manchmal lustig, dabei meistens harmlos vorkommen. Aber in der Summe sind sie eine ernsthafte Bedrohung. Wenn man die Zeitung aufschlägt oder sich Berichte im Internet anschaut, sieht es aktuell fast so aus, als würde unsere Gesellschaft drohen, den Verstand zu verlieren.

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teleschau: Woran liegt das?

Steffens: Früher haben Religion und Politik sehr verbindliche Leitplanken gezogen, die von den Allermeisten akzeptiert wurden. Das gelingt immer weniger. Deshalb werden inzwischen abseitige Ideen fast genauso ernsthaft diskutiert wie vernünftige. Daraus resultiert eine große Unübersichtlichkeit, und dann wirken bloße Behauptungen manchmal genauso bedeutend wie ein fundierter Bericht. Weil es eine solche Vielzahl von wirren Theorien gibt und einige eine erstaunlich große Öffentlichkeit erreichen, wird es für uns normale Menschen unheimlich schwierig, das Richtige vom Falschen zu trennen.

"Verrückte Thesen dürfen nicht Teil des Diskurses werden"

teleschau: Wie gefährlich sind diese Theorien für die Demokratie?

Steffens: Für Demokratie ist eine grundlegende Übereinkunft über das, was vernünftig ist, notwendig, sonst kann öffentlicher Diskurs gar nicht funktionieren. Verschwörungstheorien sind da gefährlich, wo sie Eingang in die öffentlichen Debatten finden. Wenn in einer Talkshow jemand sitzt, der eine völlig abstruse These vertritt, und daneben jemand, der von echten Erkenntnissen spricht, haben wir im Journalismus manchmal die Tendenz, die Wahrheit in der Mitte zu suchen. Das ist ein angelerntes Ritual aus dem Politikjournalismus. Im Wissenschaftsjournalismus dürfen wir aber nicht so vorgehen.

teleschau: Sondern?

Steffens: Wenn einer behauptet, die Erde sei eine Scheibe, und der andere wahrheitsgemäß sagt, die Erde sei eine Kugel, liegt die Wahrheit natürlich überhaupt nicht in der Mitte. Da ist die Mitte zwischen zwei Überzeugungen schon Wahnsinn. So dürfen wir nicht diskutieren. Am Ende ist genau das demokratiegefährdend. Verrückte Thesen dürfen nicht Teil des Diskurses werden. Das dürfen wir nicht zulassen, und wir dürfen uns dem auch nicht annähern. Man darf auch nicht zu viel Verständnis für kompletten Irrsinn haben, weil wir sonst jede zielführende Diskussion abbrechen müssten.

teleschau: Wie es aktuell auch teilweise beim Umgang mit der Corona-Pandemie der Fall ist ...

Steffens: Bei Corona sind die Demos in Berlin ein wunderbares Beispiel, wo Nazis neben Hippies unter Regenbogenfahnen marschieren - einige wollen Weltfrieden, die anderen den Bürgerkrieg. Was die vereint, ist nicht Vernunft oder eine gemeinsame These, sondern nur die Kritik an der offiziellen Wahrheit. Wenn man Regierungen, Behörden, wissenschaftliche Institutionen und die Medien grundsätzlich in Zweifel zieht, dann hat unsere Demokratie keine Handlungsbasis mehr.

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teleschau: Die Theorien vertreten ja längst nicht mehr nur vereinzelte Spinner. Wie soll man mit Verschwörungstheoretikern umgehen?

Steffens: Das ist die große Frage. Es gibt eine Studie von der Uni Erfurt zu den Corona-Maßnahmen der Regierung, die ganz simpel heruntergebrochen aussagt: Nur zwölf bis 14 Prozent der Menschen können sich überhaupt vorstellen, gegen Corona-Maßnahmen zu demonstrieren. Natürlich waren die 50.000 Menschen, die in Berlin demonstriert haben, viel. Aber wir sind ein Land mit 83 Millionen Einwohner, und 80 Prozent der Menschen halten die Corona-Maßnahmen überwiegend für vernünftig. Wir dürfen unsere Zeit nicht damit verschwenden, mit der kleinen Minderheit zu diskutieren.

"Der Marktplatz der Ideen hat sich zu einer Bühne für Schreihälse und Extremisten entwickelt"

teleschau: Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang die sozialen Medien?

Steffens: Wir erleben durch die Verschwörungsfantasien erstmals sehr deutlich, wie die Echokammern im Internet, die sozialen Medien, Mindermeinungen so verstärken können, dass wir plötzlich alle das Gefühl haben: "Das sind aber viele." Aber nein, das ist kein großer Teil der Gesellschaft. Es sind nur ganz wenige Verschwörungsfantasten, die unglaublich viel Lärm machen und die sich mit Nazis oder rechtsgesinnten Personen zusammentun - ob nun bewusst oder unbewusst. Diese Bewegung ist nur ein Scheinriese. Je genauer man hinschaut, desto kleiner wird er.

teleschau: Einerseits ist durch die Digitalisierung der Zugang zu Wissen so einfach wie nie zuvor, andererseits verbreiten sich Verschwörungstheorien rasant über das Internet. Wie erklären Sie sich dieses Paradoxon?

Steffens: Es ist ein großer historischer Irrtum, der jetzt sichtbar wird. Am Anfang hieß ja die These zur Digitalisierung und zum Internet, es entstünde eine Demokratie des Wissens und es würde sich auf ganz natürlichem, evolutionärem Weg die Wahrheit durchsetzen, weil endlich jeder mitreden kann. Aber jetzt, in einer Zeit, in der jeder seine Gedanken live übertragen kann, erleben wir, dass es keine neue Qualität des öffentlichen Diskurses bringt, sondern eher ein Meinungschaos.

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teleschau: Dabei hatte man für das Internet zunächst ganz andere Visionen ...

Steffens: Der Marktplatz der Ideen, der das Internet mal sein sollte, hat sich zu einer Bühne für Schreihälse und Extremisten entwickelt. Das war nicht abzusehen, aber macht die große gesellschaftliche Veränderung durch die Digitalisierung deutlich. Dieser Umbruch ist so gewaltig wie die Erfindung des Autos oder die Elektrifizierung der Gesellschaft. Wir dachten, das Internet würde für mehr Demokratie und Wahrhaftigkeit sorgen, erleben aber jetzt, dass es die Wahrheit immer schwerer hat, in dieser Kakofonie gehört zu werden. Die Welt wird immer verrückter, weil immer mehr immer lauter alles überall sagen können.

"Manchmal werden aus albernen Aluhutträgern sehr gefährliche Leute"

teleschau: Wo muss man ansetzen, um den Nährboden für Verschwörungstheorien auszutrocknen?

Steffens: Bis zu einem gewissen Grad müssen wir damit einfach leben. Wir dürfen uns nicht einbilden, dass wir Verschwörungstheorien grundsätzlich ausräumen können. Solange es Menschen gibt, gibt es Verschwörungstheorien. Es war nur oft nicht so laut wie heute, auch wegen der völlig anderen Möglichkeiten des Internets. Wir sollten uns nicht überlegen, wie wir die verrückten Aluhutträger überzeugt bekommen - das wird uns nicht gelingen.

teleschau: Sondern?

Steffens: Wir sollten uns fragen, wie wir eine Gesellschaft sinnvoll managen, in der ein gewisser Anteil von Menschen Vernunftargumenten nicht zugänglich ist. Wir müssen es eindämmen, weil eines darf man nicht vergessen: Natürlich sieht es albern aus, wenn jemand einen Aluhut aufsetzt. Man kann auch darüber lachen, was Attila Hildmann in den sozialen Medien schreibt, weil das wirklich verrückt ist. Aber Verschwörungstheorien sind aus strukturellen Gründen oft in der Nähe von rechten Gesinnungen zu finden und mit Antisemitismus und dem willkürlichen Hass auf andere Menschengruppen verbunden. Manchmal werden aus albernen Aluhutträgern sehr gefährliche Leute.

Attila Hildmann, the organizer of the demonstration, speaks during a protest against the government's restrictions following the coronavirus disease (COVID-19) outbreak, in front of Reichstag, in Berlin, Germany May 16, 2020. REUTERS/Fabrizio Bensch
Vegan-Koch und Verschwörungstheoretiker: Attila Hildmann (Bild: Reuters)

teleschau: Auch auf höchster politischer Ebene, etwa bei US-Präsident Donald Trump, werden alternative Fakten verbreitet. Welche Folgen auf die Gesellschaft hat diese Kultur des Misstrauens?

Steffens: Da haben wir das große Problem, nämlich dass sich politische Populisten wie auch Putin, Bolsonaro und Orban diese Verschwörungsfantasien zunutze machen. Bei Trump muss man sogar befürchten, dass er es tatsächlich glaubt. Da wird es natürlich ganz schwierig, weil dann die Theorien genau in die öffentlichen Stellen einsickern, die von Verschwörungstheoretikern eigentlich kritisiert werden. Dann wird es für uns irgendwann unmöglich, das auseinanderzuhalten - brandgefährlich.

"Das Coronavirus schafft den perfekten Nährboden für Verschwörungsfantasien"

teleschau: Wie kann man sich selbst vor Verschwörungstheorien schützen?

Steffens: Man muss eigene Denkarbeit leisten, darum kommt man nicht herum. Wir dürfen nicht alles glauben, was wir fühlen, wir müssen die Logik von Argumenten überprüfen, in Ruhe abwarten, wie sich die Faktenlage entwickelt und dürfen niemals glauben, es könne auf komplexe Fragen einfache Antworten geben.

teleschau: Warum finden Verschwörungstheorien aktuell eine solche Zustimmung?

Steffens: Die ziemlich plausible These dazu lautet, dass Zeiten der Krise auch Zeiten der Verschwörungsfantasien sind. Immer wenn sich Gesellschaften ungewohnten und großen Herausforderungen gegenübersehen, dann sucht man nach simplen Erklärungen. Das Coronavirus schafft den perfekten Nährboden für Verschwörungsfantasien: Plötzlich sahen wir uns einer Bedrohung gegenüber, die keiner von uns auf dem Zettel hatte. Eine Gefahr, die wir nicht sehen, nicht hören, nicht schmecken, nicht fühlen können, die überall lauern könnte und die wir nicht kontrollieren können. Das macht Angst. Und Angst tötet Vernunft.

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teleschau: Wie gehen Verschwörungstheoretiker vor?

Steffens: Sie nehmen ein kleines Körnchen Wahrheit und drumherum lassen sie ein Kornfeld voller irrer Fantasien wachsen. Beim Coronavirus glauben ja zum Beispiel noch immer viele, es würde aus einem Geheimlabor in Wuhan stammen. Es ist wahr, dass es in Wuhan ein biochemisches Labor gibt, das mit Coronaviren arbeitet. Alles andere drumherum ist aber falsch.

teleschau: Die Coronakrise ist noch lange nicht vorbei. Welche weitere Entwicklung des Spannungsfeldes zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Verschwörungstheorien erwarten Sie?

Steffens: Das hängt davon ab, wie resilient sich Politik, Wissenschaft und Medien zeigen. Wenn die Politik anfängt, diffuse Ängste und unbewiesene Wahrheiten allzu ernst zu nehmen, wie Trump das macht, weicht es den gesellschaftlichen Vernunftkonsens irgendwann auf. Das Gleiche gilt für die Wissenschaft und die Medien, wenn sie abseitigen und haltlosen Meinungen zu viel Raum bieten. Diese drei gesellschaftlichen Gruppen dürfen keinen Millimeter Raum geben. Verstand und Vernunft dürfen nicht infrage gestellt werden und müssen immer das Leitbild unseres Handelns sein.

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