"Bisher weitreichendste strategische Angriffe“ - Ex-General Mick Ryan: An 4 Stellen trifft die Ukraine Putin empfindlich wie nie
Der Ex-General und Militärstratege Mick Ryan lobt die Ukraine für ihre Lern- und Entwicklungsfähigkeit. Die jüngste Offensive zeigt Russlands Dilemma und soll Putin zu harten Entscheidungen drängen. Die Angriffsfähigkeit der Ukraine wächst und erfüllt vier Hauptfunktionen.
1800 Kilometer Luftlinie. So weit liegen die Ukraine und der russische Luftwaffenstützpunkt Olenya auseinander. Und doch wurde dort, nahe der russischen Grenze zu Nordfinnland und weit entfernt vom eigentlichen Kriegsgeschehen in der Ostukraine, ein russischer Überschall-Langstreckenbomber Tu-22M3 von einer ukrainischen Drohne zerstört .
Die ukrainischen Streitkräfte hätten in den vergangenen Tagen „einen ihrer bisher weitreichendsten strategischen Angriffe“ durchgeführt, schreibt der australische Militärstratege und Ex-General Mick Ryan auf X, ehemals Twitter. Neben dem Angriff auf den Flughafen südlich von Murmansk in der Arktis griffen die Ukrainer weitere russische Luftwaffenstützpunkte in den Regionen Saratow und Rjasan an. Auch auf der Krim wurden wichtige Ziele attackiert. Unter anderem wurde die letzte russische Eisenbahnfähre auf der Krim schwer beschädigt.
„Diese Strecke wurde für den Transport militärischer Ausrüstung zu den russischen Streitkräften auf der besetzten Halbinsel und von dort zu den Streitkräften in der Südukraine genutzt“, erklärt Ryan, der in den jüngsten ukrainischen Mehrfachangriffen wichtige Funktionen für den Krieg sieht, aber auch Herausforderungen erkennt, „denen sich die Ukraine bei ihren Angriffen auf Russland für den Rest des Jahres 2024 und bis 2025 stellen wird“.
Ukraine-Krieg: Angriffsfähigkeit der Ukrainer stark ausgebaut
Zunächst stellt der Experte fest: „Ausgehend von einer sehr begrenzten Fähigkeit zu Beginn der groß angelegten russischen Invasion im Jahr 2022 hat die Ukraine ihre Angriffsfähigkeit mit einer Reihe verschiedener Systeme entwickelt - und baut sie weiter aus.“ Eine Entwicklung, die in den vergangenen 28 Monaten zu beobachten gewesen sei.
Zur Angriffsfähigkeit gehören laut Ryan mittlerweile unter anderem:
„Eigene Luft- und Seeüberwachungs- und Kampfdrohnen,
ausländische Systeme wie Storm Shadow, SCALP und ATACMs,
Geheimdienstinformationen aus verschiedenen Quellen,
Einsatz von Sondereinsatzkräften und Widerstandsmitgliedern in besetzten Gebieten, in Russland und darüber hinaus,
die Fähigkeit, Techniken, Taktiken und Verfahren zu erlernen und anzupassen.“
Seit 2022 hätten die ukrainischen Streitkräfte bewiesen, dass sie in der Lage seien, sehr präzise und weitreichende Angriffssysteme gegen die Russen einzusetzen, blickt Ryan zurück. Dies habe sowohl ihre Strategie für den Krieg als auch das Image der Ukraine beeinflusst. Heute sehe man eine fähige Ukraine, die kein leichtes Opfer für Russland sei.
Russland soll gleich an mehreren Fronten gebunden werden
Die sich ständig weiterentwickelnde Angriffsfähigkeit der Ukraine erfülle, so Ryan, vier wesentliche Funktionen.
Erstens: „Die Durchführung ukrainischer operativer und taktischer Aktivitäten zu unterstützen.“
Zweitens: „Die Zahl der Dilemmas zu erhöhen, mit denen Russland in seinem Krieg gegen die Ukraine konfrontiert ist“.
Dahinter stehe die Absicht, Russland an mehreren Fronten gleichzeitig zu binden. „Ziel ist es, die Russen zu harten Entscheidungen über die Verteilung der Ressourcen in der Rüstungsindustrie und über die Zuteilung der knappen militärischen Ressourcen zu zwingen“, so Ryan.
Drittens: „Einen Wirtschaftskrieg zu führen und die russischen Energie- und Industriekapazitäten zu schwächen.“
Wie die strategischen Bombenangriffe der Alliierten im Zweiten Weltkrieg gezeigt haben, sei es jedoch sehr schwierig, ein gegnerisches Industriesystem zu zerstören, so Ryan. Während die ukrainischen Angriffe auf die russische Energieinfrastruktur weitergehen, sei die strategische Wirksamkeit dieser Kampagne noch unklar.
Die ukrainischen Streitkräfte greifen seit Monaten systematisch die russische Energieinfrastruktur an, um die russische Wirtschaft und die Finanzierung ihrer Kriegsmaschinerie zu stören. FOCUS online berichtete über die Langzeit-Taktik der Ukraine . Der ukrainische Geheimdienst (SBU) teilte bereits im März nach einer Vielzahl von Attacken auf die russische Infrastruktur mit, dass hinter dem scheinbar chaotischen Vorgehen ein ausgeklügelter Plan stecke. „Wir verfolgen eine systematisch geplante Strategie, um das wirtschaftliche Potenzial der Russischen Föderation zu verringern“, sagte eine SBU-Quelle dem Nachrichtenportal „Ukrajinska Prawda“.
Ziel sei es, dem Gegner Ressourcen zu entziehen. Die Angriffe sollen die Treibstoffversorgung des Militärs stören und die Öleinnahmen stoppen, mit denen Russland den Krieg und die Gewalt gegen ukrainische Bürger finanziert.
Viertens: „Die ukrainischen Angriffe sind auch politisch motiviert.“
Das heißt: „Die Ukraine versucht, den politischen Druck auf Putin aufrechtzuerhalten und den russischen Bürgern zu zeigen, dass der Krieg nicht so verläuft, wie sie es sich wünschen“, so Ryan weiter.
Ein weiteres politisches Ziel sei es laut dem Experten, den westlichen Unterstützern der Ukraine zu zeigen, dass das Land immer noch kämpft. Außerdem solle deutlich gemacht werden, dass die russische strategische Propaganda vom unvermeidlichen Sieg Russlands nicht stimmt.
„Gravitationszentrum des Krieges“ treffen: den Willen Putins
Die Ukraine konzentriere sich daher auf vier zentrale Elemente des russischen Kriegssystems, um das „Gravitationszentrum des Krieges“ zu treffen: den Willen Putins und seiner Regierung, den Krieg fortzusetzen. Neben Bodenoperationen und diplomatischen Bemühungen setze die Ukraine auch auf weitere Angriffe, um Russland einen hohen Preis abzuverlangen und Putin zu zeigen, dass ein Erfolg in der Ukraine unmöglich sei, so Ryan weiter.
Die Schwierigkeit bestehe nun darin, die richtige Balance zu finden zwischen politisch motivierten Schlägen, die Russlands strategische Kriegsfähigkeit schwächen sollen, und Angriffen, die die russischen Streitkräfte zermürben und ihre Offensive 2024 schwächen sollen.
Damit die verbesserten ukrainischen Angriffsfähigkeiten auch die effektivsten strategischen und operativen Fähigkeiten im Kampf gegen Russland darstellen, müssen laut Ryan jedoch noch einige Herausforderungen bewältigt werden. „Zu den fünf größten Herausforderungen gehören die Orchestrierung, die Prioritätensetzung, der Zugang zu Waffen, die Evaluierung und politische Fragen“, so der Militärexperte.