Ein Viertel Ersparnis erhofft - Radikale Idee soll Ihre Krankenkassenbeiträge auf den Stand der 1990er senken

VdK-Chefin Verena Bentele wirbt für eine einheitliche Krankenkasse für alle. Die könne die Beiträge deutlich senken, meint sie.<span class="copyright">IMAGO/Noah Wedel</span>
VdK-Chefin Verena Bentele wirbt für eine einheitliche Krankenkasse für alle. Die könne die Beiträge deutlich senken, meint sie.IMAGO/Noah Wedel

600 Euro im Jahr mehr für Durchschnittsverdiener, indem der Zusatzbeitrag zur Krankenkasse wegfällt: Dafür will der Sozialverband VdK unser Gesundheitssystem vollständig umbauen.

Zum Jahresbeginn erlebten die Menschen Deutschland, was sich in den kommenden Jahren mehrfach wiederholen dürfte, sich laut Verena Bentele aber nicht wiederholen muss: Die Beiträge zur Krankenversicherung stiegen deutlich . Bentele glaubt, sie könnten sogar sinken.

 

Einheitskasse: Genügend Einsparungen für einen Urlaub?

Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VdK, meint, Durchschnittsverdiener könnten im Jahr genügend Geld für einen kleinen Urlaub sparen, wenn die Bundesregierung alle Versicherten in einer einheitlichen Krankenkasse zusammenfasst: keine Privaten mehr und nur eine gesetzliche Kasse statt vieler.

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„Studien zeigen, dass die Beitragssätze um bis zu 3,8 Prozentpunkte gesenkt werden und Zusatzbeiträge dadurch sogar ganz entfallen könnten“, sagt Bentele auf Anfrage von FOCUS online.

Stimmt die Prognose, spart ein Angestellter mit 30.000 Euro Bruttoverdienst knapp 600 Euro im Jahr. Wer 50.000 Euro verdient, spart knapp 1000 Euro. Bestenfalls könnten die Beiträge demnach in Tiefen fallen, die die Bundesrepublik seit den 1990er-Jahren nicht mehr erlebte.

Großer Eingriff gegen ein großes Problem

Die Krankenkassenbeiträge setzen sich zusammen aus einem für alle Versicherer einheitlichen Beitragssatz von 14,6 Prozent plus einem Zusatzbeitrag, den jede Kasse frei wählt. Zum Jahreswechsel kletterten diese Zusatzbeiträge deutlich: Knapp zwei Drittel aller Versicherer verlangen sogar mehr als die erwarteten 2,5 Prozent Zusatzbeitrag . Der Beitragszuschlag für Kinderlose, seit dem Jahr 2023 0,6 Prozentpunkte, ist da noch gar nicht eingerechnet.

Ein Durchschnittsverdiener zahlt für seine Krankenversicherung dadurch heute meist einige Hundert Euro mehr als im Jahr 2024. Nach einer Inflation und inmitten einer schwächelnden Wirtschaft, belastet dies Haushalte zusätzlich. Weil der Beitragsanstieg aber vor allem durch die alternde Gesellschaft entsteht, kann ihn niemand leicht aufhalten. Einige Beobachter fordern daher grundlegende Veränderungen.

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Eine solche Forderung ist die des VdK. Eine Einheitskasse kann die Bundesrepublik nur über mehrere Jahre und in mehreren Schritten aufbauen, sagt auch Bentele. Kassen müssten nach und nach zusammengelegt werden statt in einem Aufwasch. Trotz des Aufwands lohne sich der Schritt aber.

Bentele erwartet schnelle erste Entlastungen

Erste Entlastungen könne die Veränderung schnell bringen, sagt Bentele: Je weniger Kassen es gibt, umso weniger müssten diese in Werbung investieren. Das frei gewordene Geld könnten die Versicherer in vorbeugende Maßnahmen anlegen, wodurch Krankheiten vermieden und weitere Kosten eingespart werden könnten.

Bentele erwartet weitere Vorteile:

  • Das Zweiklassensystem aus privaten und gesetzlichen Kassen entfällt, wodurch gesetzlich Versicherte schneller Termine bekämen.

  • Die Zusatzbeiträge vereinheitlichten sich. Situationen, in denen Versicherte trotz geringer Leistungsunterschiede stark verschiedene Beiträge zahlen, gäbe es nicht mehr.

  • Was Bentele nicht erwähnt, aber kommen könnte: Arbeitgeber zahlen die Hälfte der Beiträge zur Krankenkasse. Sinken die Beiträge, vergünstigt sich Arbeit in Deutschland. Das hilft der Wirtschaft.

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Eine Einheitskasse rettet das deutsche Gesundheitssystem wohl nicht allein, sagt Bentele. Die Regierung müsse beispielsweise auch Beitragsbemessungsgrenze anheben, also die Gehaltsgrenze, bis zu der Menschen überhaupt Krankenkassenbeiträge zahlen. Trotzdem hält sie die Einheitskasse für einen wichtigen Schritt zu stabileren Beiträgen.

Soweit die eine Seite der Debatte.

Beitragssenkungen durch mehr Wettbewerb

Die andere Seite beginnt mit Gesundheitsökonom Boris Augurzky vom RWI Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Essen. Er bezweifelt, dass Einsparungen bei Werbung und Verwaltung die Beiträge entscheidend senken. Alle Kassen zusammen zahlen derzeit rund 13 Milliarden Euro für Verwaltung, aber 260 Milliarden Euro für Gesundheitsleistungen. Letzterer Posten stieg zuletzt zudem deutlich stärker. Augurzky: „Ein effizienter Umgang mit diesen Mitteln spart viel mehr als die Verwaltungskosten insgesamt ausmachen."

Effizienz erfordere Wettbewerb, sagt Augurzky. Wettbewerb erfordere mehrere Kassen. „Statt den Wettbewerb zwischen den Kassen abzustellen, sollten wir uns daher besser Gedanken machen, wie wir ihn forcieren können.“

Prof. Dr. Boris Augurzky ist gesundheitspolitischer Sprecher am RWI Leibnitz-Institut für Wirtschaftsforschung in Essen und berät die Bundesregierung. Von einer Einheitskasse erhofft er sich keine Sparerfolge.RWI

Günstigere Tarife für Patienten, die auf Leistungen verzichten

Mehr Wettbewerb fordert auch Ökonom Jochen Pimpertz vom Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln. Er schlägt vor, Krankenkassen mehr Freiraum bei der Tarifgestaltung zu erlauben, etwa bei der Hausarztbindung. Versicherte könnten dann beispielsweise wählen zwischen:

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  • Einem günstigen Tarif, bei dem Versicherte für die meisten Behandlungen zunächst den Hausarzt aufsuchen müssen.

  • Einem teuren Tarif, bei dem Kunden den Arzt freier wählen.

Wer ohnehin immer erst zum Hausarzt geht, spart mit diesem Modell Geld. Wer lieber gleich Fachärzte aufsucht, kann dies weiterhin tun. Er muss den Zusatzservice allerdings bezahlen. Und falls einige Menschen aus Kostengründen lieber zum günstigeren Tarif wechseln, sparen alle: Hausärzte vermitteln Patienten laut Studien schneller zum richtigen Facharzt, was die Gesamtkosten senkt.

Sollen die Beiträge sinken, müssen die Einsparungen irgendwo herkommen, so die Botschaft. Bislang testete die Bundesrepublik hierzu aber vor allem Einheitsmodelle für alle: Die inzwischen wieder abgeschaffte Praxisgebühr von zehn Euro sollte Menschen ebenfalls anhalten, zuerst den Hausarzt zu besuchen. Weil sie aber zwangsweise für alle galt, verärgerte sie viele. Mehr Tariffreiheit lässt einige Versicherte sparen, statt alle mit ständigen Ausgaben zu verärgern. Psychologisch sinnvoller.

Soweit die andere Seite der Debatte.

Keine eindeutigen Belege für eine Seite

Welche Seite der Debatte recht hat, lässt sich nicht klar belegen. „Ich kenne kein Experiment, das eine Beurteilung der Frage erlaubt“, sagt Gesundheitsökonom Volker Meier vom Ifo-Institut in München. Auch er meint aber: „Die aktuellen Finanzierungsprobleme sind also nicht der Struktur der Kassen geschuldet, sondern vor allem den drastisch gestiegenen Kosten pro Versicherten und der Alterung der Bevölkerung.“

Auch Vergleiche mit anderen Ländern hinken, sagt Augurzky vom Leibniz-Institut. Zwar lägen die Kosten in allen Ländern mit Einheitskassen, etwa England und Spanien, niedriger als in Deutschland. Dies liege aber auch am niedrigeren Leistungsniveau. Viele Menschen besäßen daher in Einheitskasse-Ländern private Zusatzversicherungen. Die sind in Deutschland eher selten. Ohnehin: Die Gesundheitsausgaben liegen in allen EU-Ländern niedriger als in Deutschland. An der Anzahl der Kassen scheint das also eher nicht zu liegen.

Die von FOCUS online befragten Ökonomen setzen angesichts dieser Zahlen alle auf mehr Wettbewerb. Eine Einheitskasse senke die Kosten bestenfalls minimal, schaffe aber viele Risiken. Kein Druck, den Zusatzbeitrag zu senken und guten Service zu bieten. Mehr Wettbewerb könne aber den ungleich größeren Kostenberg der Behandlungen abtragen. Das berge mehr Chancen.

Ohne klare Zahlen bleibt die Entscheidung aber vor allem politisch: Wollen wir allen gesetzlich Versicherten in Deutschland die gleichen Leistungen zukommen lassen oder erlauben wir Wahlfreiheiten, die einige aus Kostengründen aber auch zur günstigeren Option drängen? Diese Frage reicht weiter als rein finanzielle Überlegungen.

Schlimmer geht’s immer

Die Bundesregierung setzt bislang jedenfalls an den Behandlungskosten an. Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat eine Krankenhausreform auf den Weg gebracht, die die Kosten deutlich senken soll . Weil die Umsetzung die Kosten kurzfristig steigert, appelliert er an die Menschen, noch durchzuhalten. Die schlimmsten Beitragsjahre seien bald vorüber.

Für diese These spricht: Bereits 2022 und 2023 sank der Anteil der Gesundheitskosten am Bruttoinlandsprodukt (BIP): von 13,2 Prozent im Jahr 2021 auf 11,8 Prozent im Jahr 2023. Bis auch die Beiträge irgendwann hoffentlich sinken, bleibt deutschen Versicherten daher nur, weiter Angebote zu vergleichen und eine günstige Versicherung zu wählen. Das spart schnell ebenfalls Hunderte Euro jährlich.

Und sowieso: Auch wenn kein EU-Land einen höheren Anteil seiner Wirtschaftsleistung für Gesundheitskosten ausgibt als Deutschland, es könnte alles noch viel schlimmer sein: In den USA verschlingt das Gesundheitswesen 16 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – knapp ein Drittel mehr als in Deutschland. Und dort haben Millionen Menschen gar keine Krankenversicherung.